Französische Uraufführung der Oper von Peter Eötvös in Straßburg
Love and other demons von Peter Eötvös (c) Paul Leclaire
Das rote Haar fließt herab bis zu den Knien. Der weiße Leib ist unschuldig und zugleich voller Anziehungskraft. Er bleibt es von Beginn bis zum Schluss. Sierva Maria, das Kind an der Schwelle zur jungen Frau, das im Namen Gottes gedemütigt und seiner Identität beraubt werden soll, erhält sich ihre Reinheit auch in der seelezerfressenden Umgebung eines kolumbianischen Klosters im 18. Jahrhundert. Ihr zur Seite steht Pater Cayetano Delaura. Obgleich er beauftragt wurde, Sierva Maria, die in Folge eines Tollwutbisses erkrankt war, zu exorzieren, siegt seine Liebe zu dem Mädchen. Dennoch kann er es vor diesem grausamen, am Ende des Stückes stehenden Rituals, nicht schützen.
Dass das Werk des Komponisten Peter Eötvös, das auf einem Roman von Gabriel Garcia Márquez basiert und in ein extrem stringentes Libretto von Kornél Hamvai gegossen wurde, eine derartige zeitliche Aktualität erhalten würde, wird sowohl dem Autor als auch dem Komponisten nicht bewusst gewesen sein. Die Missbrauchsskandale, welche die katholische Kirche derzeit erschüttert, waren in den 90er Jahren, als der Roman entstand, noch kein Thema. Hundertfach wurden Kinder geschändet, wenn auch nicht im Namen Gottes, das Umfeld jedoch machte sich genauso schuldig wie jenes von Sierva Maria. Wie der aktuellen Situation jedoch zum Hohn, wird in “Love and other demons” die Liebe des Priesters zu seiner kindlichen Schutzbefohlenen nachvollziehbar, ja bleibt sogar die einzig rühmliche Handlung.
Abgesehen von dieser Zeitaktualität jedoch hält die Oper noch weiteren, sozialen Brennstoff bereit. Was ist Identität und wer hat das Recht, diese einem Menschen abzusprechen? Gibt es eine richtige und eine falsche Abstammung? Gibt es einen wahren Gott und viele andere, falsche Götter? Wie weit geht der Versuch, sich gegen Autoritäten aufzulehnen, wenn man weiß, dass diese im Unrecht sind? Letztere Frage stellt sich in Zusammenhang mit Abrenuncio, dem Doktor, der genau weiß, dass Sierva Marias Tage gezählt sind und ihrem Vater, Don Ygnacio rät, ihr alles Schöne angedeihen zu lassen, was nur immer in seiner Macht steht. Als er jedoch erkennt, dass dieser seine Tochter in religiöser Verblendung lieber dem Nonnenkloster anvertraut, erlischt in ihm jeder Widerspruchsgeist. Er trägt hiermit genauso Mitschuld wie all jene, die aktiv gegen Sierva Maria im Kloster vorgehen.
Peter Eötvös` Musik geht eine intime Freundschaft mit dem gesungenen Wort ein. Niemals wird sie zum Selbstzweck, immer steht sie im Dienste der Erklärung oder der Emotionen, mit welchen die Charaktere jeweils zu kämpfen haben. Seine glasklare Interpretation lässt streckenweise vergessen, dass ein ganzes Orchester im Graben sitzt. Vielmehr sind große Passagen mit Ensemblequalität ausgestattet. Sierva Maria entzückt in ihrer Unbefangenheit mit großen Tonsprüngen, die sie auch körperlich umsetzt. Ihr jugendliches Hüpfen, ihre Ausgelassenheit verliert sie erst, als sie selbst zu lieben beginnt. In diesem Moment wechselt sie auch in eine andere musikalische Sprache. Lyrisch erklingt plötzlich ihre Stimme, als ob sie Delaura mit warmer Liebe übergossen und gezähmt hätte. Immer dann, wenn die tragischen Momente überhand nehmen, verdichtet sich der Tonsatz und die Lautstärke schwillt dramatisch an. Jede der Figuren erhält im Laufe des Abends nicht nur ihre eigene Arie, sondern auch eine eigene Färbung, die sie, auch wenn man das Bühnengeschehen nicht mitverfolgen würde, wieder erkennbar macht. Am Premierenabend selbst am Pult, leitete der Komponist das OPS, das Orchestre Philharmonique Strasbourg. Dieses agierte, als ob es mit Eötvös Musik auf du und du stünde und zeigte so wiedereinmal seine flexible Intelligenz und Geschmeidigkeit.
Das Bühnenbild von Helmut Stürmer, genial einfach und dennoch abwechslungsreich, wird durch Video- und Fotosequenzen ergänzt, mit welchen die Wände des bröckelnden Palastes oder des Nonnenklosters in tropische Regenwälder, surreale Traumsequenzen oder mikroskopische Abläufe von Zellfunktionen getaucht werden. Andu Dumitrescu gelingt mit diesen Filmen ein Crossover in die bildende Kunst, ohne dass dies je bemüht wirkt. Der Schneesturm in den Tropen, der den Tod des jungen Mädchens ankündigt ist ebenso schlüssig interpretierbar wie die Traumsequenz, in welcher die junge Frau nackt durch die Lüfte fliegt. Der tollwütige Hund, der mit großen Augen ins Publikum blickt oder die hellen Schmetterlinge, die Sierva Marias Unschuld und ihren Freiheitsdrang optisch unterstreichen, sind nur zwei von mehreren gelungenen Einspielungen.
Don Toribio, der Bischof der Stadt, Dominga de Adviento, die Äbtissin des Klosters und Martina Laborde, die dort festgehaltene Mörderin bilden ein Triumvirat des Grauens. Ihr religiöser Fanatismus, wohlig eingebettet in eine allgemeine soziale Akzeptanz, wird Sierva Maria zum Verhängnis. Die Verdrängung alles Sexuellen rächt sich bei ihnen und allen Nonnen in dem Moment, in welchem dem Mädchen der Teufel ausgetrieben werden soll. Sie alle fallen in exstatische Zuckungen und sind ihrer eigenen Sinne nicht mehr Herr. Trotz des starken Bildes, in welchem die Äbtissin das weiße Hemd des Kindes mit Blut beschmiert, spielt Silviu Purcarete, der für die Regie verantwortlich zeichnet, nie mit einem vordergründigen Voyeurismus. Dem Publikum bleibt eine platte Zurschaustellung von körperlichen und seelischen Verwundungen erspart; alles Leid wird nur durch die Musik und den Text ausgedrückt. Und es ist kein Paradoxon, dass gerade diese homöopathische Dosis subtiler auf das Empfinden des Publikums wirkt als würden Folter und körperlicher Verfall anschaulich wiedergegeben werden.
Josefa Miranda, die schwarze Ziehmutter Sierva Marias ist die einzige, die beständig mit beiden Beinen auf dem Boden bleibt. Ihre Naturreligion, die sie an das Kind weitergegeben hat und welche gleich zu Beginn durch einen wundersamen Stammestanz ihrer Sippe ausgedrückt wird, leistet Sierva Maria in ihren letzten Minuten seelischen Beistand.
Die realismusüberhöhten Kostüme, ebenfalls von Helmut Stürmer, überzeugen völlig und verstärken den historischen Bezug zu Ort und Zeit des Geschehens. Alle Sängerinnen und Sänger stehen, was in Opernaufführungen extrem selten ist, gleichwertig nebeneinander auf der Bühne. Jede einzelne Stimme war untadelig, jede Interpretation glaubwürdig und berührend. Allison Bell als Sierva Maria kann wohl als Traumbesetzung bezeichnet werden. Nicht nur stimmlich ein Genuss, ist es vor allem ihre jugendliche Ausstrahlung, die in dieser Rolle besticht. Robert Brubaker als in der Vergangenheit gefangener Don Ygnacio, Miljenko Turk als liebender Delaura, André Riemer in der Rolle des Abrenuncio und Sorin Draniceanu mit seinem glasklaren Bass, der sich so gut an die Rolle des Don Toribio schmiegt, zeigten neben ihrem stimmlichen auch ihr schauspielerisches Können. Susan Bickley als Josefa Miranda, die in großem, weißem Reifrock mit bunter Kopfbedeckung schon andeutet, welche persönliche Spaltung sich in ihrer Ziehtochter fortsetzen wird und schließlich Laima Jonutyte als Martina Laborde stehen als konträre aber nichts desto trotz persönlich gefestigte Urgesteine auf den beiden Seiten der Gesellschaft.
Eine rundum gelungene Opernaufführung in Straßburg im Rahmen des Festival Musica, sehens- und hörenswert!