Lore

Die deutsche Geschichte weist mehr als einen unschönen Aspekt auf. Jeder weiß zum Beispiel sofort, worum es geht, wenn man von „dunklen Kapiteln“ spricht. Der zweite Weltkrieg und die Schrecken rund um dieses weltumfassende Gemetzel, wurde ausführlich in zahlreichen Filmen aufgearbeitet. Auch die deutsche Filmlandschaft konnte einige sehr gute und ernsthafte Filminterpretationen bieten, die durch ihre Machart und sensible Herangehensweise durchaus zu beeindrucken wussten und im Gedächtnis haften bleiben.
Während der zweite Weltkrieg an sich oft filmisch dargestellt wurde, man sich sogar an den Brocken über Hitlers letzte Tage heran gewagt hat – und ganz nebenbei, recht überzeugend eingefangen hat – gibt es noch einige historische Kapitel, an deren Re-Inszenierung sich bisher kein deutscher Regisseur getraut hat. Die australische Regisseurin Cate Shortland hat sich eines sehr schwierigen Teils der historischen Aufarbeitung angenommen und erzählt nun die bewegende Geschichte von „Lore“


Süd-Deutschland, 1945. Der Krieg ist vorbei und das Land ist vollkommen zerstört. Die Besatzungstruppen der Alliierten, Franzosen und der Russen sind einmarschiert und haben das Land in Sektoren aufgeteilt. Währen sich die Besatzungstruppen vorerst nur um Soldaten und andere Militärs kümmern, muss die Bevölkerung erst einmal alleine klar kommen. Lore lebt mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter in einem großen Gehöft im Schwarzwald. Ihr Vater ist ein ranghoher Nazigeneral und wird trotz eines Fluchtversuchs von amerikanischen Soldaten verhaftet. Nachdem auch Lores Mutter abgeholt wird, muss die älteste Tochter selbst die Verantwortung über die Familie übernehmen. Sie merken schnell, dass sie nicht da bleiben können, wo sie sind, da hier viele Menschen wissen, wessen Tochter sie ist. Sie sieht nur einen Weg: Sie muss zur Großmutter nach Hamburg fliehen. Sie schnappt sich die Geschwister und macht sich zu Fuß auf den Weg. Ihre Reise führt sie durch ein zerstörtes Land voller Elend und Grauen. Vor allem die Bewohner des Landes gehen nicht besonders zimperlich miteinander um. Lore ist hin und her gerissen, zwischen ihrer eigenen anerzogenen Überzeugung und dem nackten Überlebenswillen.


„Lore“ ist ein echter Brocken. Schonungslos wird gezeigt, was in Deutschland in der unmittelbaren Nachkriegszeit los gewesen sein muss.  Das Land entpuppt sich nämlich innerhalb kürzester Zeit als gnadenlose Outlaw-Zone, in der es nur um das Überleben geht und der größte Feind, ist der Mensch. Und zwar der Mensch, der jahrelang dein Nachbar oder dein Freund war. Diese bedrohliche Atmosphäre wird bereits in den ersten Minuten des Films geschaffen und hält die komplette Zeit an. Der Film zeigt auch, zu welchen enormen Taten man fähig ist, wenn es tatsächlich um nichts anderes geht, als zu überleben. Viele Dinge wirken erschreckend authentisch. Lore ist mit ihren vier Geschwistern alleine unterwegs. Sie haben auch noch ein Baby dabei und dieses Baby avanciert immer häufiger zum Schlüssel. Zum Beispiel wollen immer wieder Mitmenschen das Baby zum Tausch gegen Lebensmittel haben. Mit einem Baby auf Arm bekommt man leichter Obdach, Essen und andere Dinge. Andere Szenen mit angedeuteten Vergewaltigungen und Hinrichtungen von Flüchtigen an Kontrollpunkten, lassen den allgemeinen Schock noch tiefer sacken. Interessant ist, dass man viele derartige Szenen aus einer ganz anderen Art von Filmen kennt. Die Darstellung einer postapokalyptischen Welt ist stets wichtiger Bestandteil von Zombiefilmen. Diese Zombiefilme versinnbildlichen eine der größten Ängste der modernen Gesellschaft: Die Angst vor dem absoluten Kontrollverlust und der Horror einer völlig aus dem Ruder laufenden Gesellschaft. Selbstverständlich braucht es keine Zombies, um diesen Zustand zu erreichen. Dass diese Motive nun in einem historischen Film auftauchen, macht sie noch beängstigender, denn sie haben nicht mehr die Distanz der Utopie. Sie sind echt. Vielleicht liegen sie in der Vergangenheit, aber sie sind echt.
Dass Shortland sich für diesen Stil entschieden hat, macht „Lore“ total beklemmend und beängstigend. Vielleicht war ihr das düstere Gesamtbild ihres Werks selbst zu hart, denn sie versucht oft, die Atmosphäre mit künstlerisch anmutenden Einsprengseln aufzulockern. So sieht man manchmal Nahaufnahmen von summenden Insekten, oder Zeitlupenshots von herabfallenden Laubblättern. So schön diese Bilder sein mögen, sie wirken deplatziert. Psychologen würden möglicherweise ihre wahre Freude an diesen Szenen haben, stellen sie wohl das Bedürfnis der Regisseurin dar, angesichts all der Schrecken einfach an etwas Schönes zu denken. Und dieses Bedürfnis verspürt der Zuschauer ebenfalls sehr stark.


„Lore“ ist harter Stoff und man vergisst durch das ganze Grauen dieser schwierigen Zeit, die Qualitäten des Films zu würdigen. Saskia Rosendahl zum Beispiel ist absolut beeindruckend, nicht nur weil sie hier ihre erste Spielfilmrolle souverän meistert. Der Film hingegen glänzt durch schonungslose Ehrlichkeit, die der Zuschauer teilweise schwer verkraften kann und genau so geht es mir mit dieser Zeit. Ich weiß fast nichts darüber, denn meine Großmütter und -väter, die diese Zeit  mit erlebt haben, schweigen bis heute.


Lore (D, 2012): R.: Cate Shortland; D.: Saskia Rosendahl, Ursina Lardi, Kai-Peter Malina, u.a.; M.: Max Richter; Offizielle Homepage


In Weimar: lichthaus
Der Filmblog zum Hören: Jeden Donnerstag, 12:00 bis 13:00 Uhr auf Radio Lotte Weimar.


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