Lord Chesterton beehrt den Thalhof

Mit der „Hochstaplernovelle“ von Robert Neumann eröffnete Martin Schwanda in der Titelrolle die neue Intendanz von Anna Maria Krassnigg am historischen Thalhof in Reichenau.

Zwei Schiffsüberfahrten, drei verschiedene Orte, geschätzte 20 Charaktere. Das sind Voraussetzungen, die nicht für ein Theaterstück passen. „Die Hochstaplernovelle“ von Robert Neumann ist, wie im Titel schon ersichtlich, nicht für die Bühne geschrieben. Anna Maria Krassnigg hat sich der Wahnsinnsaufgabe gestellt und daraus gemeinsam mit Jérôme Junod ein Ein-Mann-Stück inszeniert.

Wer sich darauf einlässt, die Abenteuer des Lord Chesterton, dessen richtiger Name eigentlich Erwin ist, nachzuspielen, muss wohl verrückt sein. Oder ein ganz großer Schauspieler. Martin Schwanda scheint diese Rolle wie auf den Leib geschrieben. Er eröffnete damit die erste Saison im Thalhof in Reichenau unter der Intendanz von Anna Maria Krassnigg. Einem Ort, der nach seiner Totalrenovierung nicht nur baulich wiederaufersteht. Die Sensibilität mit der hier von den Besitzern des Anwesens, Familie Rath, vorgegangen wurde, sucht ihresgleichen. Historische, architektonische Elemente wurden mit viel Feingefühl wieder ins rechte Licht gerückt. Substanz, die aufgrund ihres Verfalls nicht mehr zu retten war, abgetragen; der Bruch jedoch durch die Künstlerin Esther Stocker an der Hinterfront des Hauses durch dunkle Balken an der Fassade sichtbar gemacht. Aber nicht nur das. Der Thalhof bekommt mit seiner neuen Bespielung, die sich in Blöcken über das gesamte Jahr erstrecken, nun auch ein neues literarisches Leben eingehaucht und darf sich ab sofort „Thalhof – Die Wortwiege an der Rax“ nennen.

Der große Saal mit Blick auf das „weite Land“ davor, das Arthur Schnitzler, so trefflich beschrieb, erstrahlt in neuem Glanz. Hell funkeln Hunderte von kleinen, geschliffenen Glassteinen des großen Lusters von der Deckenmitte. Frisch gestrichen, in mildem Beige, die samtenen, langen Vorhänge nobel in derselben Farbe, empfängt der festliche Raum seine Besucher. Und bietet mit seinen großen Fenstern einen atemberaubenden Ausblick auf die Landschaft rund um Reichenau.

Die 16 Vierertische stellen zu wenig Sitzgelegenheiten für das Publikum zur Verfügung, sodass entlang der Wände Sesselreihen aufgestellt wurden, erhöht, um den Zusehenden einen guten Blick zu ermöglichen. Egal wo man sitzt, es gibt bei dieser Inszenierung keine guten oder schlechten Plätze, denn Lord Chesterton ist an diesem Abend ständig in Bewegung. Er durchschreitet den Saal in seiner gesamten Breite und Länge, er erzählt von seinen Gaunereien an der Stirnseite, den Rücken der großzügigen Fensterfront zugewandt, dann wieder genau gegenüber im kleinen, erhöhten Podiumsbereich. Er lehnt sich in seinem weißen Anzug einmal an die eine, dann wieder an die andere Türe, die sich ins Freie hin öffnen lassen, und erklärt minutiös jenes Geschehen, das ihn innerhalb weniger Tage eine Hochschaubahn der Gefühle und finanziellen Volten ungeahnter Art erleben ließen. Der Autor ist heute in Österreich nur mehr wenigen bekannt. Robert Neumann, ein streitbarer Geist, aus Österreich vom Naziregime vertrieben, schrieb seine Hochstaplernovelle ziemlich zeitgleich wie Thomas Mann die „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“. Sein literarischer Nachlass befindet sich in der Österreichischen Nationalbibliothek. Anna Maria Krassnigg zählt ihn zu den großen österreichischen Literaten und ist bemüht, sein Werk stärker in der Öffentlichkeit zu verankern. 2013 inszenierte sie eine Bühnenfassung seines Romans „Die Kinder von Wien“ im Rahmen der Wiener Festwochen.

Neumanns Hochstapler Erwin alias „Lord Chesterton“ wird immer wieder genötigt, seine Aufenthaltsorte zu verändern, sich in ein neues Hotel an einem neuen Ort einzuquartieren. Dann nämlich, wenn er seine Rechnungen nicht mehr bezahlen kann oder ihm jemand wie der gewitzte Hoteldiener Jean Hütter aus Wien auf seine Schliche und Betrügereien kommt. Köstlich, wie Schwanda das Zwiegespräch zwischen dem Lord, ganz in deutsch-englischem Idiom und dem aufgeweckten Hausburschen in breitestem Wienerisch, gegen sich selber führt. So landet der Hochstapler schließlich, nicht mit Absicht, sondern seiner geringen finanziellen Barschaft geschuldet, auf der kleinen, unbedeutenden Insel Ceratosa in der Lagune von Venedig. Entsetzt muss er feststellen, dass es dort nur „Kleinvieh“ gibt, womit er nicht die Fauna der Insel meint, sondern die Gäste des Hotels, in dem er absteigen musste.

Wehmütig denkt er an seine Verflossene, Denise, die ihn wegen eines Glanzstoff-Fabrikanten verließ und trauert dem mondänen Lido nach. Es ist ein großes Vergnügen, Schwanda von einer Sekunde zur nächsten in eine neue Rolle wechseln zu sehen. In jene des kleinen, geschäftigen Hotelbesitzers, dessen größte Freude es ist, sich mit honorigen Persönlichkeiten zu umgeben. In jene des jungen, stattlichen Marcelli mit blitzblauem Stecktuch, den er frühzeitig als Gegenspieler erkennt und geringschätzig nur „Balkan“ nennt. Oder in jene des ältlichen Fürsten Leibowitsch aus Lemberg, der von ihm schließlich Satisfaktion verlangt. Die Damen erhalten Gestalt durch kleine Requisiten wie einen eleganten Satinschuh, verschiedene Hüte, einen weißen Spitzensonnenschirm oder eine silberne Glitzer-Abendtasche. Eine wunderbare Idee, wie Schwanda seine Angebetete „Candida“ – in Form eines zarten Federfächers in einer kompromittierenden Situation ins Schlafzimmer – der Innentasche seines Sakkos – verschwinden lässt. Oder wie ihn eine Gräfin in Form eines Abendschuhes liebestoll in Bedrängnis bringt.

Die vorbeiziehenden Wolken am Himmel über Reichenau erröteten am Premierenabend genau in jenem Moment, in welchem Lord Chesterton von seinen Liebesgefühlen sprach, die ihn plötzlich überfielen. Profi genug, konnte er ihnen eine Zeitlang zumindest noch seinen Intellekt entgegensetzen. Lydia Hofmann, für die Ausstattung des Raumes verantwortlich, trat selbst – man darf es schon als ihr Markenzeichen benennen – in drei kleinen, stummen Nebenrollen auf. Als verflossene Geliebte, als Schimäre mal an der einen, dann wieder an der anderen Außentüre plötzlich auftauchend, aber auch als Geist und mondäne Dame. Die zarte musikalische Untermalung, die teils filmischen Charakter aufwies, stammt von Christian Mair und die elegant-witzigen Kostüme von Antoaneta Stevera.

Die Dramaturgie der einzelnen Abende am Thalhof sieht jeweils zwei Stunden vor der Hauptvorstellung ein Gespräch der Intendantin mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern vor, die einen Bezug zu jenen Literaten aufweisen, die in der Hochzeit des Thalhofs dort logierten. Robert Schindel sprach am Premierenabend über die Widersprüchlichkeiten der Figuren bei Schnitzler. Aber auch darüber, wie schonungslos dieser Autor letztlich auch sein eigenes Fehlverhalten Frauen gegenüber in seinen Werken zum Ausdruck brachte. spiel.ball nennt sich dieses Format, das von vielen anderen wie szenische Lesungen, der Präsentation von Kurzfilmen oder Literatur verschränkt mit Musik, noch ergänzt wird.

„Wir stehen ganz am Anfang unserer Bemühungen und freuen uns über alle, die uns gerade am Beginn begleiten“ begrüßte Anna Maria Krassnigg das Publikum, gleichzeitig mit der Bitte, eventuelle Kinderkrankheiten zu übersehen. Es gab jedoch nichts zu übersehen. Der wunderbare Thalhof mit seinem mittlerweile wieder mondänen Flair, die berauschend schöne Landschaft, die Bewirtung mit regionalen Spezialitäten, all das, sowie das Künstlergespräch und die Theatervorstellung lieferten ein Gesamtpaket, das Lust auf viel, viel mehr machte.

Die unerwartete Wende kurz vor Schluss des fulminant interpretierten Hochstaplers sei hier nicht verraten. Der frenetische Applaus, über den sich Erwin, pardon Lord Chesterton, pardon Martin Schwanda zu Recht freuen durfte, machte deutlich, dass das Publikum die Einstandsvorstellung mit Begeisterung aufnahm. Man darf es ruhig als gutes Omen interpretieren.

Informationen zum Programm finden sie hier: Webseite Thalhof-Reichenau

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  • Interview mit Anna Maria Krassnigg über das Projekt „Thalhof – Die Wortwiege an der Rax“
  • Interview mit Lydia Hofmann

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