Vor einigen Tagen hatte ich ein längeres Gespräch mit einem Fahrzeugdesigner. Ich will hier im Text keinen Namen nennen, aber es war schon jemand, den der eine oder andere kennt. Der Grund für meine Diskretion liegt in dem, was der freundliche Herr mir erzählte. Es ging unter anderem um die Kriterien, die bei der Auswahl von Jungdesignern angewendet werden.
Nun ist ja gegen eine solche Kultur der Darstellung wenig einzuwenden. Ein hohes Niveau ist in allen Bereichen interessant und erstrebenswert. Wenn wir aber noch einmal zum Musiker zurückblicken, dann fällt uns ein entscheidender Unterschied auf: Der Virtuose hat als Material seiner Kunst ein Stück, das er spielt, ein komplexes, auf zahllosen Ebenen verwobenes Werk, das in der Regel weder schnell noch leicht entstanden ist, sondern das Ergebnis eines langen, nicht selten qualvollen, kreativen Prozesses eines Komponisten darstellt.
Dieser emotionale Arbeitsprozess gibt, auf Basis des kulturellen Kontextes und der in diesen Kontext auf irgend eine Weise eingehängten gereiften Persönlichkeit dem Werk Substanz und Tiefe. (Und kommen Sie mir jetzt nicht mit Mozart. Die Werke des jungen Wolfgang zeigen auf ihre Weise das Problem, um das es hier geht.) Welches Stück aber spielt der junge Transportation Designer?
Autodesigner ist wahrscheinlich einer der begehrtesten Traumberufe der heutigen Zeit, jedenfalls für männliche Jugendliche aus einem bestimmten sozialen Umfeld. Zehntausende Interessenten treffen auf wenige Hundert Stellen. Um in diesem Umfeld zu bestehen, ist ein eiserner Ehrgeiz oder eine an Besessenheit grenzende Ausschließlichkeit des Interesses (für das Thema Fahrzeugdesign) notwendig – am besten beides in Kombination. Diese Tatsache wird auch an den Hochschulen und von den etablierten Designern immer wieder deutlich kommuniziert. Und so lautet der Titel des Stückes, das der junge Designvirtuose spielt dann auch: "Meine Karriere". Nicht anders.
Es besteht (und das habe ich in dem oben erwähnten Gespräch gelernt) keinerlei Bedarf an Querdenkern, Kulturmenschen, Daniel Düsentriebs oder Experimentatoren. Die ganze Branche hat sich in den Wettlauf um ein auf die Spitze getriebenes "mehr desselben" gestürzt. Wenn gelegentlich ein anderer Eindruck entsteht, dann ist das dem Marketing geschuldet, oder einem Management, das ein wenig "out of the box" denkt. Grundlegende kreative Impulse kommen – und das ist die große Überraschung – im aktuellen Geschäft nicht von den Designern. Sie können überhaupt nicht von dort kommen, denn die Designer sind damit beschäftigt, in einem auf einer sehr engen Bahn durchgeführten Wettbewerb zu bestehen.
Das ist eine zugespitzte Darstellung, zugegeben. Ich will überhaupt nicht bezweifeln, dass unter den Designchefs der großen Konzerne Menschen von beeindruckender Kultur und Lebenserfahrung sind. Und ich sehe natürlich, dass das heutige Automobildesign gelegentlich auf einem Niveau stattfindet, das ohne ein Bewusstsein für den kulturellen Kontext und ohne eine stets wache Wahrnehmung aktueller gestalterischer Strömungen nicht möglich wäre. Aber dennoch…
Der Architekt und Philosoph Patrick Schuhmacher, Büropartner von Zaha Hadid, bemerkt in einem Interview (build, 11. Jahrgang, 2/2011): "Es mangelt vor allem an theoretischer Ambition. Es gibt bisher keinen (…) Versuch einer umfassenden Diskursanalyse und gesellschaftstheoretischen Begründung von Architektur. Die aktuelle Notwendigkeit und Möglichkeit einer solchen Reflexion wird zur Zeit von niemandem (…) gesehen. 'Grand Theory' ist ja ganz allgemein (trotz Luhmann) immer noch verpönt." Er spricht über Architektur. Doch um wieviel mehr gilt das für das Design eines der präsentesten und dominantesten Gebrauchsgegenstände, die wir haben – des Autos! Innerhalb der Branche gibt es nicht den leisesten Ansatz einer über das Formale hinausgehenden Kritik. Und wo es in der Architektur eine Tradition der Theorie auf vielen Ebenen – sozialer, wahrnehmungspsychologischer, ökologischer und ökonomischer zum Beispiel – gibt, da findet sich beim Thema Fahrzeugdesign so gut wie nichts. Otl Aicher war kein Fahrzeugdesigner, und seine nun schon fast 30 Jahre alte "Kritik am Auto" las sich vielleicht zu polemisch, um in den verantwortlichen Köpfen etwas zu bewegen.
Warum ist nun eigentlich gegen die rein handwerklich – wenn auch virtuos handwerklich – orientierte Auswahl von Gestaltern im Transportation Design etwas einzuwenden? Ist es wirklich notwendig, etwas so konkretes wie die Formgebung eines technischen Gegenstandes mit einem abstrakten Überbau zu versehen? Ist das nicht nur Wichtigtuerei? Geht hier nicht etwas verloren, so wie in der Werbegrafik der Charme der Unschuld durch Wahrnehmungspsychologen und Marketing-Theoretiker vernichtet wurde?
Die Antwort darauf hat viele Schichten.
Wenn wir ganz unten, oder besser: ganz innen anfangen, dann müssen wir erkennen, dass ohne eine gewisse Kenntnis von Semiotik und Semantik (siehe hier: LINK) keine substanzielle Gestaltung möglich ist. Die Branche verlässt sich hier weitgehend auf den persönlichen Horizont der jeweiligen Gestalterpersönlichkeit, und sie fährt nicht schlecht damit. Deswegen soll dazu nichts weiter gesagt werden, soweit es diesen Text betrifft.
Auch die dritte Ebene steht in einem sehr engen Zusammenhang mit dem persönlichen Horizont, den Erfahrungen und Werten des Gestalters: Hier findet sich, im weitesten Sinne, Kultur.
Aber auch diese dritte Schicht ist immer noch vollständig affirmativ, sie führt zu nichts anderem als zu "mehr desselben".
Deswegen muss, auf einer vierten Schicht, ein gestaltungstheoretisches (nicht gestalttheoretisches) Denken beginnen. Die einfache Frage: Was tue ich hier eigentlich? öffnet dem Designer neue Welten: Manipulation, gesellschaftliche Verantwortung, die Wirkung von Form auf das Verhalten der Nutzer, soziale Faktoren – ein unendlich weites Feld diskursiver Themen tut sich auf. Dieser kleine Text würde sich gewaltig verheben, würde er auch nur andeuten wollen, was da alles denkbar und bedenkenswert ist. Aber schon ist zu sehen, dass diese ganze Meta-Ebene des Gestaltens, gerade im Fahrzeugdesign, nicht nur unbeackert ist, sondern offenbar auch als verbotenes Terrain gilt. Aber eine Veränderung der ganzen Branche, eine Veränderung, die Vernunft, Verantwortung und den leichten, einfachen Spaß zurück bringen könnte, müsste von dieser Ebene aus ihren Anfang nehmen. Genau deswegen können wir eigentlich nicht akzeptieren, dass unsere Fahrzeuge von kleinen Jungs gemacht werden, die sich mit virtuoser Zeichentechnik ihren Traumberuf erkämpft haben. Wir brauchen sie dringend, die Querdenker und Theoretiker, die reifen Kulturmenschen, die Experimentatoren.