Designausbildung, Kultur, Zukunft
Vor einigen Tagen hatte ich ein längeres Gespräch mit einem Fahrzeugdesigner. Ich will hier im Text keinen Namen nennen, aber es war schon jemand, den der eine oder andere kennt. Der Grund für meine Diskretion liegt in dem, was der freundliche Herr mir erzählte. Es ging unter anderem um die Kriterien, die bei der Auswahl von Jungdesignern angewendet werden.
Kurz gesagt: Er muss zeichnen können. Und sonst? Er sollte zeichnen können. Und außerdem ist noch wichtig, dass er (oder vielleicht auch sie) gut zeichnen kann. Die "freshe" Skizze ist das Maß aller Dinge. "Fresh" bedeutet: Die Linien müssen schnell und spontan sitzen, d.h. es sollte sichtbar sein, dass kein großer Zeitaufwand nötig war, um Perspektive, Linienführung und Komposition in Griff zu bekommen. "Fresh" bedeutet außerdem, dass das Ergebnis möglichst viel Dynamik ausstrahlt, der Glanz der Lackoberfläche in einer realistisch anmutenden, aber Comic-haft codierten Weise souverän und beeindruckend wiedergegeben ist und aus hell-dunkel und Linien eine grafisch ansprechende und anspruchsvolle Komposition entsteht. Die Linienstruktur einer Scetch entsteht auf einem Blatt Papier oder, heute meistens, direkt auf dem Grafiktablett. Die Zeichnung wird in Photoshop oder in einem dafür konzipierten Car-Styling Programm (z.B. Alias) vervollständigt. Dabei wird eine technische Virtuosität erwartet (und geboten) die mit der eines Solomusikers durchaus zu vergleichen ist. Und man kann diesen Vergleich weiter führen: wie beim Musiker ist Üben, stures, ehrgeiziges, unbeirrtes Üben notwendig, um aus einer vorhandenen Begabung die erwartete Beherrschung der Materie zu entwickeln. Und wie beim Konzertsolisten ist die Konkurrenz hart, der Wettbewerb eng.
Nun ist ja gegen eine solche Kultur der Darstellung wenig einzuwenden. Ein hohes Niveau ist in allen Bereichen interessant und erstrebenswert. Wenn wir aber noch einmal zum Musiker zurückblicken, dann fällt uns ein entscheidender Unterschied auf: Der Virtuose hat als Material seiner Kunst ein Stück, das er spielt, ein komplexes, auf zahllosen Ebenen verwobenes Werk, das in der Regel weder schnell noch leicht entstanden ist, sondern das Ergebnis eines langen, nicht selten qualvollen, kreativen Prozesses eines Komponisten darstellt.
Dieser emotionale Arbeitsprozess gibt, auf Basis des kulturellen Kontextes und der in diesen Kontext auf irgend eine Weise eingehängten gereiften Persönlichkeit dem Werk Substanz und Tiefe. (Und kommen Sie mir jetzt nicht mit Mozart. Die Werke des jungen Wolfgang zeigen auf ihre Weise das Problem, um das es hier geht.) Welches Stück aber spielt der junge Transportation Designer?
Autodesigner ist wahrscheinlich einer der begehrtesten Traumberufe der heutigen Zeit, jedenfalls für männliche Jugendliche aus einem bestimmten sozialen Umfeld. Zehntausende Interessenten treffen auf wenige Hundert Stellen. Um in diesem Umfeld zu bestehen, ist ein eiserner Ehrgeiz oder eine an Besessenheit grenzende Ausschließlichkeit des Interesses (für das Thema Fahrzeugdesign) notwendig – am besten beides in Kombination. Diese Tatsache wird auch an den Hochschulen und von den etablierten Designern immer wieder deutlich kommuniziert. Und so lautet der Titel des Stückes, das der junge Designvirtuose spielt dann auch: "Meine Karriere". Nicht anders.
Es besteht (und das habe ich in dem oben erwähnten Gespräch gelernt) keinerlei Bedarf an Querdenkern, Kulturmenschen, Daniel Düsentriebs oder Experimentatoren. Die ganze Branche hat sich in den Wettlauf um ein auf die Spitze getriebenes "mehr desselben" gestürzt. Wenn gelegentlich ein anderer Eindruck entsteht, dann ist das dem Marketing geschuldet, oder einem Management, das ein wenig "out of the box" denkt. Grundlegende kreative Impulse kommen – und das ist die große Überraschung – im aktuellen Geschäft nicht von den Designern. Sie können überhaupt nicht von dort kommen, denn die Designer sind damit beschäftigt, in einem auf einer sehr engen Bahn durchgeführten Wettbewerb zu bestehen.
Das ist eine zugespitzte Darstellung, zugegeben. Ich will überhaupt nicht bezweifeln, dass unter den Designchefs der großen Konzerne Menschen von beeindruckender Kultur und Lebenserfahrung sind. Und ich sehe natürlich, dass das heutige Automobildesign gelegentlich auf einem Niveau stattfindet, das ohne ein Bewusstsein für den kulturellen Kontext und ohne eine stets wache Wahrnehmung aktueller gestalterischer Strömungen nicht möglich wäre. Aber dennoch…
Der Architekt und Philosoph Patrick Schuhmacher, Büropartner von Zaha Hadid, bemerkt in einem Interview (build, 11. Jahrgang, 2/2011): "Es mangelt vor allem an theoretischer Ambition. Es gibt bisher keinen (…) Versuch einer umfassenden Diskursanalyse und gesellschaftstheoretischen Begründung von Architektur. Die aktuelle Notwendigkeit und Möglichkeit einer solchen Reflexion wird zur Zeit von niemandem (…) gesehen. 'Grand Theory' ist ja ganz allgemein (trotz Luhmann) immer noch verpönt." Er spricht über Architektur. Doch um wieviel mehr gilt das für das Design eines der präsentesten und dominantesten Gebrauchsgegenstände, die wir haben – des Autos! Innerhalb der Branche gibt es nicht den leisesten Ansatz einer über das Formale hinausgehenden Kritik. Und wo es in der Architektur eine Tradition der Theorie auf vielen Ebenen – sozialer, wahrnehmungspsychologischer, ökologischer und ökonomischer zum Beispiel – gibt, da findet sich beim Thema Fahrzeugdesign so gut wie nichts. Otl Aicher war kein Fahrzeugdesigner, und seine nun schon fast 30 Jahre alte "Kritik am Auto" las sich vielleicht zu polemisch, um in den verantwortlichen Köpfen etwas zu bewegen.
Warum ist nun eigentlich gegen die rein handwerklich – wenn auch virtuos handwerklich – orientierte Auswahl von Gestaltern im Transportation Design etwas einzuwenden? Ist es wirklich notwendig, etwas so konkretes wie die Formgebung eines technischen Gegenstandes mit einem abstrakten Überbau zu versehen? Ist das nicht nur Wichtigtuerei? Geht hier nicht etwas verloren, so wie in der Werbegrafik der Charme der Unschuld durch Wahrnehmungspsychologen und Marketing-Theoretiker vernichtet wurde?
Die Antwort darauf hat viele Schichten.
Wenn wir ganz unten, oder besser: ganz innen anfangen, dann müssen wir erkennen, dass ohne eine gewisse Kenntnis von Semiotik und Semantik (siehe hier: LINK) keine substanzielle Gestaltung möglich ist. Die Branche verlässt sich hier weitgehend auf den persönlichen Horizont der jeweiligen Gestalterpersönlichkeit, und sie fährt nicht schlecht damit. Deswegen soll dazu nichts weiter gesagt werden, soweit es diesen Text betrifft.
Auch die dritte Ebene steht in einem sehr engen Zusammenhang mit dem persönlichen Horizont, den Erfahrungen und Werten des Gestalters: Hier findet sich, im weitesten Sinne, Kultur.
Anstatt eine Analyse zu versuchen, möchte ich mit einem Beispiel zeigen, was ich meine. Viele Käufer und Nutzer der Mercedes S-Klasse dürften in einem Umfeld leben, das von hochwertigen handgefertigten Möbeln, oft antike Stücke, geprägt wird. Sie kommen in ihrem Alltag, wenn etwa nicht in ihrem zuhause, dann doch in Hotels, Besprechungsräumen und ähnlichen Treffpunkten mit echter, hochwertiger Kunst in Berührung. Sie sind gezwungen, ihre Kleidung nach anspruchsvollen Kriterien auszuwählen und müssen, ob sie es wollen oder nicht, ein gewisses Bewusstsein für die Qualität von Schnitten, Stoffen und Accessoires entwickeln. Sie wissen, wie ein guter Schuh verarbeitet ist, und was den Unterschied zwischen einem englischen und einem italienischen Modell ausmacht. Im Falle unseres Beispiels handelt es sich zusätzlich noch um ein sehr konservatives, also auf die Pflege und Weiterführung generationenalter Werte gerichtetes Mileu. Was nun, wenn das Interior eines für eine solche Zielgruppe gedachten Fahrzeugs von einem 26-jährigen, ehrgeizigen und begabten, aber mit der Lebenswelt der Käufer absolut nicht vertrauten Jungdesigner gezeichnet wird? Dieser junge Mann kommt möglicherweise (nein, wahrscheinlich!) aus einer kleinbürgerlichen Familie mit Aufsteiger-Tendenzen. Er mag sich, wenn es gut geht, im Rahmen des Projektes mehr oder weniger intensiv mit Formen und Farben der Zielgruppe auseinandersetzen, die andere, ebenfalls aus einem Aufsteigermilieu stammende für ihn gesammelt und vielleicht in Moodboards dargestellt haben. Aber er wird kaum begreifen können, wie die Wertewelt derjenigen aussieht, für die er gestaltet. Wenn er es doch versucht, wird ihm ein anderes Hindernis begegnen, das "Angler und Fisch"-Problem nämlich. Denn aus der Vielzahl von Varianten, die von verschiedenen Designern entwickelt und dargestellt werden sucht ja nicht der endliche Kunde diejenige aus, die ihm am besten gefällt, sondern das obere Management des Unternehmens. Der Köder, den der Designer in Form seiner Skizze auf den Tisch legt, wird gar nicht danach beurteilt, ob er dem Fisch (also dem Kunden) schmeckt, sondern danach, ob er den Anglern (also den Managern) mundet.
Auch hier wieder: Eine zugespitzte Darstellung, die ein prinzipielles Problem verdeutlichen soll. Das o.g. Beispiel bezieht sich übrigens konkret auf die von 1998 bis 2005 gebaute Reihe W220. Der von VW im Jahr 2002 präsentierte Phaeton ging einen gestalterisch vollkommen anderen Weg – hier hatte, so liest man, Ferdinand Piëch mehr als nur ein Wort mitzureden. Fisch und Angler kamen sozusagen aus ein und derselben Familie, wodurch ein exzellentes Ergebnis möglich wurde.
Aber auch diese dritte Schicht ist immer noch vollständig affirmativ, sie führt zu nichts anderem als zu "mehr desselben".
Deswegen muss, auf einer vierten Schicht, ein gestaltungstheoretisches (nicht gestalttheoretisches) Denken beginnen. Die einfache Frage: Was tue ich hier eigentlich? öffnet dem Designer neue Welten: Manipulation, gesellschaftliche Verantwortung, die Wirkung von Form auf das Verhalten der Nutzer, soziale Faktoren – ein unendlich weites Feld diskursiver Themen tut sich auf. Dieser kleine Text würde sich gewaltig verheben, würde er auch nur andeuten wollen, was da alles denkbar und bedenkenswert ist. Aber schon ist zu sehen, dass diese ganze Meta-Ebene des Gestaltens, gerade im Fahrzeugdesign, nicht nur unbeackert ist, sondern offenbar auch als verbotenes Terrain gilt. Aber eine Veränderung der ganzen Branche, eine Veränderung, die Vernunft, Verantwortung und den leichten, einfachen Spaß zurück bringen könnte, müsste von dieser Ebene aus ihren Anfang nehmen. Genau deswegen können wir eigentlich nicht akzeptieren, dass unsere Fahrzeuge von kleinen Jungs gemacht werden, die sich mit virtuoser Zeichentechnik ihren Traumberuf erkämpft haben. Wir brauchen sie dringend, die Querdenker und Theoretiker, die reifen Kulturmenschen, die Experimentatoren.
Vor einigen Tagen hatte ich ein längeres Gespräch mit einem Fahrzeugdesigner. Ich will hier im Text keinen Namen nennen, aber es war schon jemand, den der eine oder andere kennt. Der Grund für meine Diskretion liegt in dem, was der freundliche Herr mir erzählte. Es ging unter anderem um die Kriterien, die bei der Auswahl von Jungdesignern angewendet werden.
Kurz gesagt: Er muss zeichnen können. Und sonst? Er sollte zeichnen können. Und außerdem ist noch wichtig, dass er (oder vielleicht auch sie) gut zeichnen kann. Die "freshe" Skizze ist das Maß aller Dinge. "Fresh" bedeutet: Die Linien müssen schnell und spontan sitzen, d.h. es sollte sichtbar sein, dass kein großer Zeitaufwand nötig war, um Perspektive, Linienführung und Komposition in Griff zu bekommen. "Fresh" bedeutet außerdem, dass das Ergebnis möglichst viel Dynamik ausstrahlt, der Glanz der Lackoberfläche in einer realistisch anmutenden, aber Comic-haft codierten Weise souverän und beeindruckend wiedergegeben ist und aus hell-dunkel und Linien eine grafisch ansprechende und anspruchsvolle Komposition entsteht. Die Linienstruktur einer Scetch entsteht auf einem Blatt Papier oder, heute meistens, direkt auf dem Grafiktablett. Die Zeichnung wird in Photoshop oder in einem dafür konzipierten Car-Styling Programm (z.B. Alias) vervollständigt. Dabei wird eine technische Virtuosität erwartet (und geboten) die mit der eines Solomusikers durchaus zu vergleichen ist. Und man kann diesen Vergleich weiter führen: wie beim Musiker ist Üben, stures, ehrgeiziges, unbeirrtes Üben notwendig, um aus einer vorhandenen Begabung die erwartete Beherrschung der Materie zu entwickeln. Und wie beim Konzertsolisten ist die Konkurrenz hart, der Wettbewerb eng.
Nun ist ja gegen eine solche Kultur der Darstellung wenig einzuwenden. Ein hohes Niveau ist in allen Bereichen interessant und erstrebenswert. Wenn wir aber noch einmal zum Musiker zurückblicken, dann fällt uns ein entscheidender Unterschied auf: Der Virtuose hat als Material seiner Kunst ein Stück, das er spielt, ein komplexes, auf zahllosen Ebenen verwobenes Werk, das in der Regel weder schnell noch leicht entstanden ist, sondern das Ergebnis eines langen, nicht selten qualvollen, kreativen Prozesses eines Komponisten darstellt.
Dieser emotionale Arbeitsprozess gibt, auf Basis des kulturellen Kontextes und der in diesen Kontext auf irgend eine Weise eingehängten gereiften Persönlichkeit dem Werk Substanz und Tiefe. (Und kommen Sie mir jetzt nicht mit Mozart. Die Werke des jungen Wolfgang zeigen auf ihre Weise das Problem, um das es hier geht.) Welches Stück aber spielt der junge Transportation Designer?
Autodesigner ist wahrscheinlich einer der begehrtesten Traumberufe der heutigen Zeit, jedenfalls für männliche Jugendliche aus einem bestimmten sozialen Umfeld. Zehntausende Interessenten treffen auf wenige Hundert Stellen. Um in diesem Umfeld zu bestehen, ist ein eiserner Ehrgeiz oder eine an Besessenheit grenzende Ausschließlichkeit des Interesses (für das Thema Fahrzeugdesign) notwendig – am besten beides in Kombination. Diese Tatsache wird auch an den Hochschulen und von den etablierten Designern immer wieder deutlich kommuniziert. Und so lautet der Titel des Stückes, das der junge Designvirtuose spielt dann auch: "Meine Karriere". Nicht anders.
Es besteht (und das habe ich in dem oben erwähnten Gespräch gelernt) keinerlei Bedarf an Querdenkern, Kulturmenschen, Daniel Düsentriebs oder Experimentatoren. Die ganze Branche hat sich in den Wettlauf um ein auf die Spitze getriebenes "mehr desselben" gestürzt. Wenn gelegentlich ein anderer Eindruck entsteht, dann ist das dem Marketing geschuldet, oder einem Management, das ein wenig "out of the box" denkt. Grundlegende kreative Impulse kommen – und das ist die große Überraschung – im aktuellen Geschäft nicht von den Designern. Sie können überhaupt nicht von dort kommen, denn die Designer sind damit beschäftigt, in einem auf einer sehr engen Bahn durchgeführten Wettbewerb zu bestehen.
Das ist eine zugespitzte Darstellung, zugegeben. Ich will überhaupt nicht bezweifeln, dass unter den Designchefs der großen Konzerne Menschen von beeindruckender Kultur und Lebenserfahrung sind. Und ich sehe natürlich, dass das heutige Automobildesign gelegentlich auf einem Niveau stattfindet, das ohne ein Bewusstsein für den kulturellen Kontext und ohne eine stets wache Wahrnehmung aktueller gestalterischer Strömungen nicht möglich wäre. Aber dennoch…
Der Architekt und Philosoph Patrick Schuhmacher, Büropartner von Zaha Hadid, bemerkt in einem Interview (build, 11. Jahrgang, 2/2011): "Es mangelt vor allem an theoretischer Ambition. Es gibt bisher keinen (…) Versuch einer umfassenden Diskursanalyse und gesellschaftstheoretischen Begründung von Architektur. Die aktuelle Notwendigkeit und Möglichkeit einer solchen Reflexion wird zur Zeit von niemandem (…) gesehen. 'Grand Theory' ist ja ganz allgemein (trotz Luhmann) immer noch verpönt." Er spricht über Architektur. Doch um wieviel mehr gilt das für das Design eines der präsentesten und dominantesten Gebrauchsgegenstände, die wir haben – des Autos! Innerhalb der Branche gibt es nicht den leisesten Ansatz einer über das Formale hinausgehenden Kritik. Und wo es in der Architektur eine Tradition der Theorie auf vielen Ebenen – sozialer, wahrnehmungspsychologischer, ökologischer und ökonomischer zum Beispiel – gibt, da findet sich beim Thema Fahrzeugdesign so gut wie nichts. Otl Aicher war kein Fahrzeugdesigner, und seine nun schon fast 30 Jahre alte "Kritik am Auto" las sich vielleicht zu polemisch, um in den verantwortlichen Köpfen etwas zu bewegen.
Warum ist nun eigentlich gegen die rein handwerklich – wenn auch virtuos handwerklich – orientierte Auswahl von Gestaltern im Transportation Design etwas einzuwenden? Ist es wirklich notwendig, etwas so konkretes wie die Formgebung eines technischen Gegenstandes mit einem abstrakten Überbau zu versehen? Ist das nicht nur Wichtigtuerei? Geht hier nicht etwas verloren, so wie in der Werbegrafik der Charme der Unschuld durch Wahrnehmungspsychologen und Marketing-Theoretiker vernichtet wurde?
Die Antwort darauf hat viele Schichten.
Wenn wir ganz unten, oder besser: ganz innen anfangen, dann müssen wir erkennen, dass ohne eine gewisse Kenntnis von Semiotik und Semantik (siehe hier: LINK) keine substanzielle Gestaltung möglich ist. Die Branche verlässt sich hier weitgehend auf den persönlichen Horizont der jeweiligen Gestalterpersönlichkeit, und sie fährt nicht schlecht damit. Deswegen soll dazu nichts weiter gesagt werden, soweit es diesen Text betrifft.
Auch die dritte Ebene steht in einem sehr engen Zusammenhang mit dem persönlichen Horizont, den Erfahrungen und Werten des Gestalters: Hier findet sich, im weitesten Sinne, Kultur.
Anstatt eine Analyse zu versuchen, möchte ich mit einem Beispiel zeigen, was ich meine. Viele Käufer und Nutzer der Mercedes S-Klasse dürften in einem Umfeld leben, das von hochwertigen handgefertigten Möbeln, oft antike Stücke, geprägt wird. Sie kommen in ihrem Alltag, wenn etwa nicht in ihrem zuhause, dann doch in Hotels, Besprechungsräumen und ähnlichen Treffpunkten mit echter, hochwertiger Kunst in Berührung. Sie sind gezwungen, ihre Kleidung nach anspruchsvollen Kriterien auszuwählen und müssen, ob sie es wollen oder nicht, ein gewisses Bewusstsein für die Qualität von Schnitten, Stoffen und Accessoires entwickeln. Sie wissen, wie ein guter Schuh verarbeitet ist, und was den Unterschied zwischen einem englischen und einem italienischen Modell ausmacht. Im Falle unseres Beispiels handelt es sich zusätzlich noch um ein sehr konservatives, also auf die Pflege und Weiterführung generationenalter Werte gerichtetes Mileu. Was nun, wenn das Interior eines für eine solche Zielgruppe gedachten Fahrzeugs von einem 26-jährigen, ehrgeizigen und begabten, aber mit der Lebenswelt der Käufer absolut nicht vertrauten Jungdesigner gezeichnet wird? Dieser junge Mann kommt möglicherweise (nein, wahrscheinlich!) aus einer kleinbürgerlichen Familie mit Aufsteiger-Tendenzen. Er mag sich, wenn es gut geht, im Rahmen des Projektes mehr oder weniger intensiv mit Formen und Farben der Zielgruppe auseinandersetzen, die andere, ebenfalls aus einem Aufsteigermilieu stammende für ihn gesammelt und vielleicht in Moodboards dargestellt haben. Aber er wird kaum begreifen können, wie die Wertewelt derjenigen aussieht, für die er gestaltet. Wenn er es doch versucht, wird ihm ein anderes Hindernis begegnen, das "Angler und Fisch"-Problem nämlich. Denn aus der Vielzahl von Varianten, die von verschiedenen Designern entwickelt und dargestellt werden sucht ja nicht der endliche Kunde diejenige aus, die ihm am besten gefällt, sondern das obere Management des Unternehmens. Der Köder, den der Designer in Form seiner Skizze auf den Tisch legt, wird gar nicht danach beurteilt, ob er dem Fisch (also dem Kunden) schmeckt, sondern danach, ob er den Anglern (also den Managern) mundet.
Auch hier wieder: Eine zugespitzte Darstellung, die ein prinzipielles Problem verdeutlichen soll. Das o.g. Beispiel bezieht sich übrigens konkret auf die von 1998 bis 2005 gebaute Reihe W220. Der von VW im Jahr 2002 präsentierte Phaeton ging einen gestalterisch vollkommen anderen Weg – hier hatte, so liest man, Ferdinand Piëch mehr als nur ein Wort mitzureden. Fisch und Angler kamen sozusagen aus ein und derselben Familie, wodurch ein exzellentes Ergebnis möglich wurde.
Aber auch diese dritte Schicht ist immer noch vollständig affirmativ, sie führt zu nichts anderem als zu "mehr desselben".
Deswegen muss, auf einer vierten Schicht, ein gestaltungstheoretisches (nicht gestalttheoretisches) Denken beginnen. Die einfache Frage: Was tue ich hier eigentlich? öffnet dem Designer neue Welten: Manipulation, gesellschaftliche Verantwortung, die Wirkung von Form auf das Verhalten der Nutzer, soziale Faktoren – ein unendlich weites Feld diskursiver Themen tut sich auf. Dieser kleine Text würde sich gewaltig verheben, würde er auch nur andeuten wollen, was da alles denkbar und bedenkenswert ist. Aber schon ist zu sehen, dass diese ganze Meta-Ebene des Gestaltens, gerade im Fahrzeugdesign, nicht nur unbeackert ist, sondern offenbar auch als verbotenes Terrain gilt. Aber eine Veränderung der ganzen Branche, eine Veränderung, die Vernunft, Verantwortung und den leichten, einfachen Spaß zurück bringen könnte, müsste von dieser Ebene aus ihren Anfang nehmen. Genau deswegen können wir eigentlich nicht akzeptieren, dass unsere Fahrzeuge von kleinen Jungs gemacht werden, die sich mit virtuoser Zeichentechnik ihren Traumberuf erkämpft haben. Wir brauchen sie dringend, die Querdenker und Theoretiker, die reifen Kulturmenschen, die Experimentatoren.