Nichts stimmt hier. Obwohl sich die Geschichte in Lize Spits Debüt- und Bestsellerroman „Und es schmilzt“ nur langsam entwickelt, machen sich beim Lesen bereits zu Beginn böse Ahnungen breit, die einen immer tiefer ins Geschehen ziehen.
Erzählt wird aus der Sicht von Eva, die seit neun Jahren in Brüssel lebt und ihr Heimatdorf Bovenmer samt Eltern hinter sich gelassen hat. Auch den Kontakt zu ihren alten Klassenkameraden hat sie abgebrochen. Erst eine Einladung von Pim, einem alten Schulfreund, holt Eva zurück in die Vergangenheit. Sie folgt der Einladung und kehrt in das Dorf zurück – mit im Kofferraum ein großer Eisklotz.
Die Gegenwart, in der Eva sich auf den Weg nach Bovemneer macht, ist eine von drei Zeitebenen, in die der Roman unterteilt ist. Auf der Fahrt erinnert Eva sich an den letzten, verhängnisvollen Sommer in Bovenmeer im Jahr 2002, als sie 14 Jahre alt war. Eine weitere Erzählebene sind Szenen in loser Folge aus ihrer Kindheit und Jugend.
Spit könnte nun die Geschichte einer sorgenfreien Kindheit auf dem idyllischen Land erzählen. Tut sie aber nicht. Vielmehr deckt sie auf rund 500 Seiten auf, welch Schmerz und Gewalt von diesem Dorfleben ausgehen. Evas Jugend ist erschreckend traurig. Sie, ihre Schwester Tesje und ihr Bruder Jolan sind ihren Eltern egal. Die Mutter ist Alkoholikerin, der Vater erzählt Eva von seinen Selbstmordgedanken. Die Gleichgültigkeit der Eltern geht an den Kindern nicht spurlos vorbei: Tesje entwickelt Zwangsstörungen, ihr Bruder ist den ganzen Tag auf Feldern unterwegs, um Insekten zu sammeln. Eva selbst flüchtet jeden Tag zu ihren Schulfreunden Laurens und Pim. Die selbsternannten drei Musketiere sind jahrelang unzertrennlich, vor allem weil es in Bovenmeer keine weiteren Kinder in ihrem Alter gibt.
Erst im Sommer 2002 verändert sich die Freundschaft der mittlerweile 14-Jährigen, sie entfremden sich. Das liegt am plötzlichen Tod von Pims älteren Bruder im Winter zuvor oder daran, dass Laurens und Pim mit der Pubertät ihre Sexualität entdecken. Um „Erfahrungen“ zu sammeln, laden sie Mädchen aus dem Dorf ein und geben ihnen ein Rätsel auf. Die Mädchen dürfen so viele Fragen stellen, wie sie Kleidung am Leib tragen. Eva macht bei den Spielen von Laurens und Pim mit, um dazuzugehören. Am Ende eskaliert die Situation. Leidtragende ist Eva.
„Und es schmilzt“ ist ein Roman, in dem Spit eindringlich und schonungslos über sexuelle Gewalt in einem vermeintlich idyllischen Dorf erzählt. Sprachlich bleibt Spit nüchtern, fast emotionslos. Vergangenheit und Gegenwart fädelt sie geschickt mit Evas Ankunft in Bovenmeer zusammen. Dort wird auch das Rätsel um den Eisblock wird aufgelöst, das nicht weniger fürchterlich ist.
Der Roman lebt besonders vom narrativen Aufbau: Nie verliert Spit beim Erzählen die triste Stimmung und lauernde Bedrohung aus den Augen. Und nie weiß man als Leser, was als nächstes kommt. Man stolpert von einer brutalen Grausamkeit zur nächsten, ohne irgendeine Warnung, das Buch noch schnell wegzulegen. Wer „Und es schmilzt“ lesen will, muss sich auf das unvermittelt Böse einlassen können.
Lize Spit: Und es schmilzt. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. S. Fischer. 512 Seiten. 22 Euro.