Im Zuge der Nationenschaffung durch den Versailler Vertrag 1919 entstand auch die Nation der Tschechoslowakei, die so zuvor noch nie existiert hatte, verschiedene Ethnien in ihren Grenzen vereinigte und deren Existenz von einigen ihrer Nachbarn nicht oder nur teilweise anerkannt wurde. Deutschland, Polen und Ungarn beanspruchten (in unterschiedlichen Größenverhältnissen) Teile tschechoslowakischen Gebiets, und nationalistische Extremisten auf tschechischer, vor allem aber slowakischer Seite forderten die Auflösung der Föderation zugunsten zweier Einzelstaaten. In einem Wort, die Existenz der Tschechoslowakei war höchst prekär.
Das Land beinhaltete zudem einige Schlüsselindustrien, die vorher im Einflussbereich Österreich-Ungarns gelegen hatten. Allein hieraus leiteten sich Ansprüche des seit März 1938 zum Großdeutschen Reich gewandelten Nachbarn ab, dessen Begehrlichkeiten mit der neu gewonnen Stärke durch militärische Aufrüstung und außenpolitische Siege gegen kleine Nachbarn und nachgiebige Großmächte geweckt wurden. Der Blick der Nazis richtete sich auf die Gruppe der Sudetendeutschen, einer deutschsprachigen Minderheit im gebirgigen Grenzgebiet der Tschechoslowakei, das sich von der neuen "Ostmark" (dem ehemaligen Österreich) bis nach Schlesien hinauf zog.
Die Sudetendeutschen waren seit der "Machtergreifung" 1933 massiv von deutscher Seite unterwandert worden. Das sudetendeutsche Parteiensystem war implodiert, und die völkische Sammlungsbewegung der "Sudetendeutschen Partei" hatte weitgehende Kontrolle über das Gebiet. Ihr Anführer Konrad Henlein hatte die Partei und ihren paramilitärischen Arm, das "Freikorps", wie terroristische Zellen organisiert und stand in engem Kontakt zu Berlin.
Hitlers Plan war von der Konzeption her simpel. Henlein würde dem Anschein nach mit der tschechischen Regierung verhandeln, seine Forderungen jedoch beständig eskalieren und nötigenfalls durch die Inszenierung von Zwischenfällen die Verhandlungen zum Scheitern bringen. Gleichzeitig bereitete Hitler ein Eingreifen der Wehrmacht zu einem passenden Zeitpunkt in Reaktion auf angebliche Menschenrechtsverstöße der tschechischen Regieurng vor. Dieser Tanz auf dem Vulkan wurde von Henlein rund anderthalb Jahre lang erfolgreich, aber zunehmend krisengeschüttelter durchgehalten. Im Sommer 1938, als aus Deutschland massive Unterstützung an Waffen, Logistik, Training und SA-Freiwilligen einsickerte und die Schießereien und Übergriffe im Grenzgebiet zunahmen, eskalierte die Lage.
Der tschechischen Regierung waren diese Vorfälle natürlich nicht verborgen geblieben. Sie deeskalierte, wo immer möglich, und ging auf alle Forderungen der Sudetendeutschen ein (was den überraschten Henlein zwang, die Verhandlungen tatsächlich unter einem Vorwand abzubrechen) und gab das Grenzgebiet weitgehend auf. Die Vorfälle häuften sich im Sommer 1938 aber dergestalt, dass es in Prag offenkundig war, was gespielt wurde.
An dieser Stelle explodierte die Lage beinahe. Das Prager Außenministerium ließ den französischen Botschafter wissen, dass man plane, den Bündnisfall auszurufen (Frankreich war mit der Tschechoslowakei und Polen seit längerem verbündet, um Deutschland auszutarieren). Da Frankreich seinerseits mit Großbritannien militärisch verbunden war, würde das Land ebenso betroffen sein. Weder Frankreich noch Großbritannien sahen sich für einen Krieg gerüstet und versuchten mit aller Macht, Prag davon abzubringen. Entsprechend rasselten sie mit dem Säbel gegenüber Deutschland, in der Hoffnung, Hitler werde einlenken.
Diesem kam die Krise zur Unzeit. Er plante die "Zerschlagung der Tschechoslowakei" durch einen Angriff, aber er sah als Bedingung dafür, dass Frankreich den Bündnisfall nicht ausrufen werde - und dazu brauchte es sorgfältig orchestrierte Zwischenfälle, nicht die zunehmend chaotischen und blutigen Übergriffe des "Freikorps" und der eingesickerten SA-Truppen. In dieser Situation brach in der Tschechoslowakei ein Aufstand der Sudetendeutschen los: zwei Wochen lang putschte das Freikorps gegen Prag. Hitler, massiven Widerstand aus den Reihen der Wehrmacht auf der einen und französisch-britische Drohungen auf der anderen Seite ausgesetzt, hielt still. Innerhalb von zwei Wochen schlug Prag den Aufstand nieder. Es war der letzte Erfolg der tschechischen Regierung. Im Bemühen um mehr Zeit schickte sich Großbritannien an, die bekannte Appeasement-Politik einzuleiten, aber das ist eine andere Geschichte.
Für unsere Zwecke interessant ist etwas anderes. Wir haben es hier mit einer Version der "Little Green Men" zu tun, wie sie auch in der Ukrainekrise zum Einsatz kamen (und unzählige Male in anderen Ländern und Variationen in der Zeit dazwischen). Die Parallelen sind aber zu deutlich, um ignoriert zu werden: eine fremdsprachige Minderheit, die von Extremisten kooptiert wird, die auf "Anschluss" ans benachbarte Mutterland drängen. Ein Staat, der dies zurecht als Auflösung seiner Souveränität und effektives Ende der Eigenstaatlichkeit sieht. Ein Westen, der nicht weiß, wie er der Aggression begegnen soll, nur, dass er keinen Krieg will.
Das soll nicht heißen, Putin wäre Hitler. Solche Analogien greifen zu kurz und erklären wenig. Viel spannender ist die Sudetenkrise für uns, weil sie Warnungen über mögliche Probleme bereithält - und damit Lektionen für die Zukunft.
Lektion 1: Es ist für den Aggressor schwierig bis unmöglich, seine paramilitärischen Zellen unter Kontrolle zu halten, sowie sie einmal ins Feindgebiet infiltriert sind. Dies erwies sich in der Sudetenkrise sowohl für Heninger als auch Hitler zum Problem, die weder ihre eigene Partei noch die SA unter Kontrolle hatten, wo stattdessen übereifrige Mitglieder des mittleren Managments die Kontrolle übernahmen. Hier können dann potenziell ungewollte Ereignisse eintreten: Aufstände wie im Sudetenland, Abschüsse von Verkehrsflugzeugen wie in der Ukraine.
Lektion 2: Geht man allzu offen vor, können die "Little Green Men" wesentlich zu deutlich auf ihre Urheber zurückverfolgt werden. Das wichtigste in dieser Strategie ist es, plausibel leugnen zu können etwas damit zu tun zu haben. Denn wenn man das nicht schafft, bereitet man Lektion 3 den Boden.
Lektion 3: Etwas offiziell zu machen zwingt zu Entscheidungen, die man vielleicht nicht fällen will. Als Prag sich entschloss, ernsthaft über den Bündnisfall nachzudenken, schwanden die Optionen in Paris und London dramatisch. Hätte die tschechoslowakische Regierung dies getan und sich gegen die Infiltration der deutschen Paramilitärs militärisch zur Wehr gesetzt, indem sie ihre Grenzen verteidigt, hätten Frankreich und Großbritannien nur noch zwei Möglichkeiten gehabt: ihr Bündnis und damit die gesamte europäische Sicherheitsarchitektur aufgeben oder Deutschland den Krieg erklären.
Lektion 4: Verhandlungen mit jemand, der nicht ehrlich verhandelt, sind wertlos. Dass die tschechoslowakische Regierung bis zur Selbstverleugnung bereit war, sudetendeutschen Forderungen entgegenzukommen, erwies sich als völlig irrelevant. Hitler hatte kein Interesse an sudetendeutscher Autonomie innerhalb der Tschechoslowakei, er wollte das Land zerschlagen und als Machtfaktor ausschalten. Genau das tat er ja dann einen Monat (Münchner Abkommen) bzw. sieben Monate (Annexion Tschechiens) auch.
Diese Lektionen sind relevant, wenn wir heute das Geschehen in den baltischen Staaten anschauen. Hier gibt es, wie in der Ukraine, russischsprachige Minderheiten, und Putin hat bereits Drohgebärden gemacht, die in die Richtung gehen, wie auch in der Ukraine zu eskalieren. Das Problem ist, dass die baltischen Staaten sowohl in EU als auch NATO sind - und beide sind in solchen Fällen zu Beistand verpflichtet, anders als in der Ukraine.
Würden also russische "Little Green Men" etwa nach Litauen einsickern und die dortige Grenzregion (den berühmten "Suwalki-Gap") destabilisieren, und die litauische Regierung würde offiziell verkünden, dass es sich um russische Truppen handle und den Bündnisfall ausrufen, dann müssten sowohl die NATO als auch die EU die Entscheidung treffen, ob sie den Beistandsfall anerkennen oder nicht. Ihnen blieben nur noch diese beiden Optionen. Wie sich entscheiden würden, kann dabei nicht völlig sicher sein, und Unsicherheit ist Gift in den Internationalen Beziehungen.
Auch vor diesem Hintergrund muss die Stationierung von NATO-Truppen und einer EU-Battlegroup in der Region gesehen werden. Denn ihre Anwesenheit - und ihre Stationierung im Grenzgebiet - macht es extrem wahrscheinlich, dass die "Little Green Men" nicht nur auf litauische, sondern auch auf NATO- und EU-Truppen stoßen würden, und dass es entsprechend zu Todesfällen, Gefangennahmen etc. kommt. Damit aber blieben NATO und EU überhaupt keine Wahl mehr. Die Hoffnung ist, dass diese Logik solche Destabilisierungsversuche von vornherein verhindert.
Oder, anders ausgedrückt: die NATO ist der Überzeugung, dass Frankreich und Großbritannien 1938 hätten Truppen im Sudetenland stationieren sollen. Und jeder ist gottfroh, dass keine in der Ukraine waren.