Es gab einmal eine Zeit, in der man beim Wort ‚Rezension‘ nicht sofort an Online-Versandhändler dachte. Eine Zeit, in der es keine Sternchen für ein Buch gab, weil man es „voll spannend“ oder „richtig geil“ fand. Wir können jetzt gemeinsam in den Abgesang auf die Kultur und das Abendland einstimmen. Oder aber wir schauen genau hin und stellen die Frage, ob die klassische Literaturkritik überhaupt noch zeitgemäß ist.
Inhalt: Was ist Literaturkritik? | Literaturkritiker sind Dienstleister | Wer kritisieren darf | Eine schwindende Autorität | Raus aus der Mottenkiste | Ein Blick in die Zukunft | Fazit
Was ist Literaturkritik?
Wie so oft scheint die Antwort auf diese Frage sonnenklar und wie so oft ist sie das natürlich nicht. Denn die Literaturkritik als solche lässt sich nur schwer eingrenzen. Schauen wir uns hierfür den Versuch der Wikipedia an:
„Die Literaturkritik oder Literaturbesprechung als Feld der Literaturdiskussion macht es sich anhand von Rezensionen zur Aufgabe, Werke der Literatur zu bewerten und einzuordnen.“
Die Literaturkritik kann also nicht mit Rezensionen gleichgesetzt werden. Und ein weiterer Satz aus der Wikipedia-Definition sollte uns aufmerken lassen:
„Literaturkritiker bzw. Rezensenten literarischer Werke sehen sich häufig als im Dienst des Publikums und/oder der Literatur stehend und bewerten die Werke im Hinblick auf implizite oder explizite Kriterien, die gegebenenfalls wie in der Literaturwissenschaft auch mit Verweisen auf entsprechende Literaturtheorien argumentieren.“
Entwirren wir dieses Satzmonster, dann erhalten wir folgende Erkenntnis:
Literaturkritiker sind Dienstleister
Dem Verständnis nach schreiben Literaturkritiker also für jemanden. Sie machen das nicht aus Jux und Dollerei, sondern wollen eine bestimmte Zielgruppe erreichen: die Leser. Sie bewerten Bücher und geben diese Bewertungen weiter.
Literaturkritiker haben also eine Aufgabe: Die Spreu vom Weizen zu trennen und Bücher in ihr Genre-Gehege zu verweisen. Ein Schelm, wer dabei an Schubladen denkt …
Wer kritisieren darf
Gerade bei diesem Thema entzünden sich alberne Debatten aus einer längst vergangenen Ära. Auf die Spitze der Absurdität wird das Ganze getrieben, wenn Kritiker als zu freundlich gelten. Denn wahre Literaturkritik darf selbstverständlich kein gutes Haar an den besprochenen Büchern lassen.
Wer aber darf sich Literaturkritiker nennen? Die einen schreiben selbst und wissen daher, wie Autoren arbeiten, die anderen sind in einem Verlag tätig und wieder andere haben keinen beruflichen Hintergrund im Literaturbetrieb, sondern womöglich einen journalistischen. Mischformen treten häufig auf, und wir stellen hier die Frage der Perspektive.
Auch die Herangehensweise ist von entscheidender Bedeutung: Eine Literaturkritik nach literaturtheoretischem, also wissenschaftlichem Ansatz, setzt andere Schwerpunkte als eine Kritik, die sich zum Beispiel auf den Unterhaltungswert eines Buches fokussiert.
Entscheidend ist zudem der persönliche Hintergrund des Literaturkritikers, seine Biografie: Welche Bildung hat die Person, woher kommt sie? Welchen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Einflüssen war sie ausgesetzt? Kurzum: Literaturkritiker und Literatur gehen zwangsläufig eine persönliche Beziehung ein.
Längst sind Literaturkritiken nicht mehr nur in Zeitungen, sondern auch in Blogs, bei YouTube und in Social-Reading-Kanälen zu finden. Diese untypischen, selbsternannten Literaturkritiker scheinen Wellen zu schlagen und zu provozieren. So wurde auf der Frankfurter Buchmesse über dieses Thema diskutiert. Dabei drängt sich eine Frage auf: Sind solche Diskussionen überhaupt nötig?
Eine schwindende Autorität
In der jüngsten Ausgabe des Literatischen Quartetts diskutierten die Schriftsteller Maxim Billier und Thomas Glavinic über Thomas Melles Roman Die Welt im Rücken. Glavinic lobte den Humor des Autors, woraufhin dieser Schlagabtausch folgt:
Biller: „Aber was ist das für ein Humor? Ist das österreichischer, deutscher, jüdischer, englischer?“
Glavinic: „Ich muss ja nicht jedem Humor gleich einen Reisepass ausstellen.“
Biller: „Eigentlich schon.“
Ist das so? Muss Humor kategorisiert und katalogisiert werden? Diskussionen wie diese sind der Versuch, Autorität einzufordern. Doch fußt diese Autorität auf elitärem Anspruchsdenken.
Dass Literaturkritiker in den vergangenen Jahren an Einfluss verloren haben, dürfte jedem klar sein. Für die meisten Leser sind eben doch die Sternchen-Bewertungen der Online-Portale entscheidender für den Kauf eines Buches als behäbige Artikel im Feuilleton oder das Dogma eines Literaten. Womit wir beim nächsten Problem angelangt wären.
Raus aus der Mottenkiste
Die klassischen Medienhäuser haben es nicht leicht. Erst machten ihnen die Online-Magazine Konkurrenz und jetzt kommen auch noch diese dahergelaufenen Blogger, die glauben, ihre Meinung zu Büchern abgeben zu dürfen! Und das ohne literaturwissenschaftliche Bildung – skandalös. Und was sind schon wieder Book-Hauls? Klingt jedenfalls zum Davonrennen.
Jeder kann mittlerweile seine persönliche Literaturkritik im Netz veröffentlichen. Das hat natürlich auch Nachteile. Wenn Hinz und Kunz in Blogs und Vlogs plappern können, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, wird das Angebot an Rezensionen ziemlich unübersichtlich. Das ist jedoch allemal besser, als das Revier der Literaturkritik einigen wenigen Erlauchten zu überlassen.
Ein Blick in die Zukunft
Ist ein Konkurrenzdenken zwischen Bloggern und Literaturkritikern des Feuilletons sinnvoll? Sicherlich nicht. Intelligenter wäre es doch, die Potenziale beider Strömungen zu sehen. Einige Verlage haben das erkannt und becircen zunehmend die digitalen Rezensenten. Dass Buchblogger noch recht naiv statt native mit diesem Business umgehen, ist weitaus problematischer als die Tatsache, dass die klassische Literaturkritik in den Hintergrund gerückt ist.
Was bedeutet das für die Zukunft? Es könnte sein, dass eine Versöhnung erfolgt. Ein stilles, besser noch ein offizielles Agreement zwischen der klassischen Zunft und den Kritikern mit Selfie-Stick, Instagram-Account und IKEA-Regalen im Hintergrund des Videos. Muss aber auch nicht sein. Literaturkritik ist schließlich frei und für jedermann zugänglich.
Fazit
Die Literaturkritik hat sich von den Druckerpressen und Fernsehbildschirmen ins Netz verlagert. Das ist alles andere als eine schlechte Entwicklung, wenn man sich vergegenwärtigt, welcher Schund zum Teil in den Zeitungen gefeiert wird – ich erinnere da nur an feuchte Gebiete und einen unterbelichteten Sprechgesangskünstler. Zur eigenen Meinungsbildung ist es enorm hilfreich, auch ein paar wirklich kritische Töne dazu zu finden. Das macht die Literaturkritik schließlich aus.