LiteraTour Nord 2015-2016: Bronsky, Schacht, Peltzer und Trojanow

Von Helge

Im Rahmen der LiteraTour Nord hat es bereits vier Lesungen (in Hannover) gegeben - und ich habe hier noch nicht berichtet. Bekanntlich ist die "LiteraTour Nord" eine Lesereise, bei der am Schluss ein Preis vergeben wird, derzeit mit 15000 Euro dotiert. Sechs Autorinnen oder Autoren lesen jeweils hintereinander aus dem neuesten Werk in sechs norddeutschen Städten, zuletzt in Hannover. Eine Jury wählt die Preisträgerin, den Preisträger.

Bisher haben gelesen: Alina Bronsky aus "Baba Dunjas letzte Liebe"; Ulrich Schacht aus "Grimsey", Ulrich Peltzer aus "Das bessere Leben" und Ilja Trojanow aus "Macht und Widerstand".

Die alte Baba Dunja, von der Alina Bronsky erzählt, ist eine Tschernobyl-Heimkehrerin (die es ja tatsächlich gibt): Nach dem Reaktorunglück ist sie in ihr Heimatdorf zurückgekehrt und führt dort ein selbstbestimmtes Leben, zusammen mit einigen anderen aus der früheren Nachbarschaft. Dunja hat sich zu einer weisen Zentralfigur entwickelt, einer Art Dorfvorsteherin, die von allen respektiert wird. Sie bekommt sogar einen Heiratsantrag! Baba Dunja schreibt an ihre Tochter Briefe, die in Deutschland als Ärztin arbeitet und ihr ab und zu Lebensmittel, praktische Dinge und Medikamente schickt. Ansonsten versorgt sie sich aus ihrem (verstrahlten) Garten. Die Autorin lässt ihre Hauptfigur in der Ichform erzählen und erreicht dadurch eine außerordentlich berührende Dichte, bei der sich Klugheit, Gefühl und Humor verbinden. Die Lektüre kann ich sehr empfehlen - und es gibt eine großartig gelesene Hörfassung von Sophie Rois. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln.

Die Erzählung "Grimsey" von Ulrich Schacht ist "nur" ein schmales Bändchen, das es aber in sich hat: Auf raffinierte Weise wird die Beschränkung auf die kleine, unbekannte, einsame Insel mit Welthaltigkeit verbunden. Ein Fotograf, der schon in der ganzen Welt unterwegs war, durchquert die winzige isländische Insel am Polarkreis und reist zugeich in sein eigenes Inneres, in seine Vergangenheit. Die Einheimischen begegnen ihm freundlich, alles scheint normal, aber mehr und mehr stößt der Fotograf auf ein Geheimnis; sichtbares Zeichen sind die toten Möwen, die er zunehmend findet. Aufbau Verlag, Berlin.

Welches ist das bessere Leben, das Ulrich Peltzer verspricht? Die Frage wird nicht beantwortet - aber die Leserin, der Leser spürt bei der Lektüre, dass das hier geschilderte Leben nicht das beste ist ... Es ist ein extremes Leben in der Finanz- und Wirtschaftswelt. Dieselben jungen Menschen (viele von ihnen), die einst für eine bessere Welt gekämpft haben, sind in einer völlig undurchschaubaren, radikal kapitalistischen Welt Manager geworden. Jochen Brockmann, bisher ein sehr erfolgreicher Sales Manager, verstrickt sich in ein zusammenbrechendes System. Gerade zu dem Zeitpunkt - Zufall oder Plan? - kreuzt Sylvester Lee Fleming, skrupelloser Geschäftsmann, Ivestor, Riskioberater seinen Weg. Was hält diese unsere Welt zusammen - Geldströme, Gott oder der Teufel? Das ist eine der Fragen, die den Autor bewegen. Einen philosophischen Roman, einen metaphysischen Thriller über das 21. Jahrhundert und die Gespenster der Vergangenheit nennt die Verlagswerbung das Werk. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M.

Von Ilja Trojanow habe ich vor allem seine Art zu lesen in Erinnerung - ganz hervorragend, wie selten bei AutorInnen. Und seine aufschlussreiche Art, im Gespräch Antwort zu geben; manchmal auf humorvoll-ironische Art, die den Moderator auflaufen lässt. Der Titel "Macht und Widerstand" wirkt wie ein vereinfachender Gegensatz (Dualismus oder Schwarz-Weiß-Malerei), verkörpert in zwei Personen: dem Widerstandskämpfer Konstantin und dem Offizier und Karrierist der bulgarischen Staatssicherheit Metodi. Doch wird mit der Zeit klar, dass beide auch etwas vom anderen haben. Der Roman spielt in Bulgarien, aber es geht Trojanow nicht um Bulgarien, sagt er (er ist in Sofia geboren), es ist ein Beispiel für viele andere. Der Aufbau des Romans ist raffiniert, denn Trojanow zitiert immer wieder Originaldokumente der Staatssicherheit, die nach der Wende zugänglich wurden; die frei erfundene Handlung hat er um die Dokumente herum gestaltet, sodass es zusammenpasst. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M.

Besuchen Sie die beiden Lesungen, die noch folgen: Alban Nikolai Herbst: "Traumschiff" (28. Januar 2016 in Hannover) und Judith Kuckart: "Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück" (11. Februar in Hannover).

Weitere Informationen auf der Seite der LiteraTour Nord