LiteraTour Nord 2014-2015 in Hannover, Teil 2: Nachlese Lutz Seiler

Die zweite Lesung der LiteraTour Nord wurde in Hannover in einen größeren Raum verlegt und war trotzdem ausverkauft.

Lutz Seilers "Kruso": ein gut erzählter, fesselnder Roman, auch humorvoll bis satirisch, ein Meisterstück als Fiktion mit dokumentarisch-historischem Hintergrund. Die Geschichte spielt auf der Insel Hiddensee im Wendejahr 1989. Trotzdem ist "Kruso" kein bloßer Wenderoman, er ist vielschichtiger. Es geht um Freiheit, innere wie äußere. 

Kruso

Seine äußere Freiheit erreicht Edgar Bendler, genannt Ed, durch die Flucht aus seinem bisherigen Leben: Nach dem Unfalltod seiner Freundin reist er unter DDR-typischen Schwierigkeiten auf die Insel Hiddensee. Dort findet er im "Klausner", der Gaststätte am Steilufer, Arbeit als Abwäscher. Und er begegnet  dort Alexander Krusowitsch, genannt Kruso oder Losch, der ihn in alles einweist. Zwischen ihnen entwickelt sich eine tiefe und durchaus schwierige Männerfreundschaft, die wie eine Achse der den Alltag tragenden Gemeinschaft aus Saisonkräften (SK) wirkt, der „Besatzung“ des Klausners, zusammengewürfelt aus lauter skurrilen Individualisten, die sich jeden Morgen mit dem Chef zum Frühstück zu einer zwölfköpfigen „Tafelrunde“ einfinden - eine Gruppe von Aussteigern, die sich auf ein Leben jenseits der DDR-Normen eingerichtet haben. Ed lernt viel von ihnen, seine Flucht auf die Insel entwickelt sich unversehens zur Einweihung und Initiation, allmählich wird er auch in die inneren Geheimnisse des Klausners eingeweiht: Kruso hat eine Utopie – er verspricht, jeden „Schiffbrüchigen“ (des Landes, des Lebens) zu den „Wurzeln der Freiheit“ zu führen. In der Praxis hatte er dazu ein Netzwerk von Kontakten und Aktionen aufgebaut, in das die SKs des "Klausners" eingebunden sind; für zwei, drei Tage bekommen die Schiffbrüchigen eine heimliche Unterkunft und eine warme Suppe. Neben den normalen Touristen stranden nämlich auf Hiddensee Menschen ohne Quartierschein, ohne Aufenthaltserlaubnis, mit dem Risiko, von Grenzbewachern entdeckt zu werden; darunter sind solche, die ihre Flucht über die Ostsee vorbereiten - nicht allen gelingt sie, ihr weiteres Schicksal bleibt oft unaufgeklärt, Krusos Schwester gehört dazu.

Im Laufe der Erzählzeit zerbröckelt jedoch Krusos Netzwerk parallel zur zerfallenden DDR. Nach und nach verlassen die SKs und ihr Chef den "Klausner", bis nur noch Ed und Kruso den Betrieb aufrechterhalten, so gut sie können. Am Schluss ist auch Kruso verschwunden (sterbenskrank abtransportiert), und Ed hat das Empfinden, dass letztlich die Lebenden und die Toten vereint sind – „Kruso hatte recht gehabt“, denkt er, „keiner war verloren, keiner blieb ewig vermisst.“

In einem Epilog auf den letzten 40 Seiten des Buches, fast so spannend wie der eigentliche Roman unter der Überschrift „Abteilung Verschwunden (Edgars Bericht)“ schildert der Autor (in der Rolle Edgars) seine Recherchen über die Flüchtlinge von der Ostsee nach Dänemark, die ihn über Umwege in die Kellerräume des zentralen Polizeiarchivs in Kopenhagen und zu den Friedhöfen der Anonymen führen.

Der Roman ist vielschichtiger, als es hier scheinen mag. Offensichtlich hat Lutz Seiler eine bissige Freude an den Absurditäten der DDR - ein Beispiel ist die "Karte der Wahrheit", eine gefälschte Karte von Hiddensee und Umgebung, die Fluchtpläne erschweren soll. Im Gespräch nach der Lesung fügte er weitere, real erlebte Beispiele seiner Generation (Jahrgang 1963) hinzu - in seiner Militärzeit z.B. ist er mit dem Herstellen von Panzerattrappen aus Sand beschäftigt, die den Feind täuschen sollen.

Lutz Seiler schafft es, in einer schmucklosen Sprache die realen Hintergründe so in einer individuellen Geschichte zu verarbeiten, dass eine durchgängige, kaum zu erklärende Magie des Erzählten entsteht. Dem Autor wurde für diesen Roman der Deutsche Buchpreis 2014 verliehen. Ob er auch noch den Preis der LiteraTour Nord bekommt?

Dieser Artikel wird in ähnlicher Form in der Kulturzeitschrift "Die Drei" erscheinen.

Lutz Seiler: Kruso. Roman. Suhrkamp, Berlin 2014. 484 Seiten. 22,95 EUR.

 


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