LiteraTour Nord 2013-2014: Thomas Glavinic: Das größere Wunder, Nachlese zur 6. Lesung

Verworrenes Leben, gekrönt von einem Aufstieg - der Gipfel der Unglaubwürdigkeit, aber spannend erzählt: Thomas Glavinic, Das größere Wunder. Bei diesem Roman weiß ich nicht, ob ich mich ärgern soll oder mich einfach an der Erzählspannung freuen. Eine so unglaubliche Häufung von erzählten Unwahrscheinlichkeiten habe ich selten zu lesen bekommen (jedenfalls nicht im realistischen Rahmen, Märchen und andere Fantastereien lasse ich außen vor). Das ist mir alles viel zu konstruiert - dennoch habe ich diesen Roman von der ersten bis zur letzten Zeile gelesen, über 500 Seiten; der Verfasser hat es also verstanden, mein Interesse wach zu halten. Das liegt zu einem Teil sicherlich an dem Schauplatzwechsel von Kapitel zu Kapitel. Und wahrscheinlich auch an den psychologischen Tiefen und Untiefen, die immer wieder ausgelotet und vermittelt werden - kein seichtes Buch also.

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Jonas, die Hauptperson, nimmt an einer Expedition auf den Gipfel des Mount Everest teil. Während der Etappen des Aufstiegs zieht sein Leben an ihm vorüber. Beim Erzählen wechselt Glavinic von Kapitel zu Kapitel streng zwischen Bergbesteigung und den biografischen Stationen ab, die in zeitlicher Folge geschildert werden. Erst im 51. und 52. der insgesamt 62 Kapitel werden die beiden Erzählstränge zusammengeführt, die Handlung wird auf den Aufstieg konzentriert. Jonas wächst mit seinem Zwillingsbruder Mike und seinem besten Freund Werner zusammen bei "Picco" auf (Werners Großvater), dem "Boss", der mit teils zweifelhaften Geschäften viel Geld verdient und den Jungen ein sorgenfreies Dasein ermöglicht. Die Heranwachsenden sind unzertrennlich, neugierig und mutig und bekommen den Freiraum dafür. Diese Idylle bleibt allerdings nicht: Schließlich lebt nur noch Jonas - nach wie vor ohne materielle Sorgen - und geht in der ganzen Welt ruhelos auf die Suche (wonach?), er reist nach Montevideo, Tokio, Oslo, Rom und ... in über hundert Länder, die er mehr oder weniger kennenlernt. Bis er auf Marie trifft, die große Liebe, die ihn immer versteht. Doch verliert er sie anscheinend wieder und beginnt dann die Mount-Everest-Expedition - dieses Extrem fehlte ihm noch. Ein Happy End gibt es auch noch, nachdem er am Rande des Todes den Gipfel erreicht hat und wieder heruntergekommen ist. Zu den angehäuften Unwahrscheinlichkeiten gehört es auch, dass Jonas jede Sprache versteht, ohne sie sprechen zu können. Und dass er auf den Japaner Tanaka trifft (in einer Situation hat Jonas ihm das Leben gerettet), der ihm jeden Wunsch erfüllt - unter anderem besorgt er ihm eine eigene Insel ohne Bewohner und das passede Schiff, um dorthin zu kommen.

"Daran dachte er" - an die zuletzt erlebte Sonnenfinsternis - "und an Marie und an die Wunder, die er erlebt hatte. Und daran, dass das eine Wunder geendet hatte. - Das größere Wunder. Zu Ende. Und nichts auf der Welt, das es zurückzubringen vermochte. - Doch. Etwas schon. Ein neues Wunder", heißt es auf S. 118.

Diesen Roman kann ich nur ertragen, wenn ich ihn als Parodie auf das Immer-größer-immer-weiter-immer-mehr lese, also gegen den Strich. Das größere Wunder ist denn wohl auch (für mich), dass ein Schriftsteller heute noch mit überbordender Fantasie ein solches Buch schreibt, das überhaupt nicht in die Zukunft führt. Alle Zukunfskeime - von Konsumkritikern über Tauschbörsen und Transition Town bis zu Gemeinschaftsgärten und Solidarischer Landwirtschaft, um nur einige Beispiele zu nennen - werden vollkommen ignoriert.

Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; das Bild zeigt das Titelbild, das der Hanser-Verlag gestaltet hat.


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