LiteraTour Nord 2010-2011 (3) - Iris Hanika: Das Eigentliche

Von Helge

 

LiteraTour Nord 2010-2011 (3) - Iris Hanika: Das Eigentliche

Ohne Frage: in seiner Art gut geschrieben, auch mit formalen Mitteln (satztechnisch, typographisch, Seiten-Raum), mit Elementen der konkreten Poesie.

Dennoch, darf ich ehrlich sein? Obwohl inzwischen klar ist, dass Iris Hanika den Preis bekommt? Dieser Roman begeistert mich nicht. Ich weiß, ich bin damit im Widerspruch zum großen Dennis Scheck. Für mich ist er seltsam, der Roman. Das "Eigentliche" der Hauptpersonen (ihr eigentliches Interesse und Anliegen) überzeugt mich nicht. Gibt es das wirklich, dass junge bis mittelalte Menschen noch so unmittelbar an der deutschen Vergangenheit leiden, dass ihnen Auschwitz dermaßen nahegeht, dass sie es als persönliches Unglück empfinden? Ja, in den 68ern gab es das, da lebten ja viele der Väter noch, aber das ist über vierzig Jahre her. Hier und heute ist mir das zu konstruiert, zu gewollt, realitätsfern. Oder soll ich das als satirische Überspitzung nehmen, die deutlich machen soll, dass es eben so bedauerlicherweise nicht (mehr) ist? Eher unwahrscheinlich, denn dann würde es im Klappentext nicht heißen: "Iris Hanika zeigt, wie die Verbrechen der Nazizeit uns bis heute in ihren Klauen halten ..."

Hans Frambach arbeitet als Archivar im "Amt für Vergangenheitsbewirtschaftung"; bei ihm persönlich ist es also schon verständlich, dass er sich täglich mit der Thematik befasst. Er hat eine Freundin namens Graziela, eher platonisch, denn für die Erfüllung der körperlichen Lust ist Konkurrent Joachim zuständig, ein Verheirateter mit Kindern. Frambach wird von seinem Chef nach Schanghai geschickt, aber im Roman wird nur von den Vorbereitungen erzählt, zu der eigentlichen Reise kommt es während der Erzählzeit nicht mehr.

Ich zitiere noch einmal ein Stück vom Klappentext, weil es den Sinn des Titels deutlich macht: "Das Eigentliche ist für jeden etwas anderes. Für Hans Frombach sind es die Verbrechen der Nazizeit, an denen er leidet, seit er denken kann. Darum ist er Archivar im Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung geworden, nur fragt er sich, ob es nicht an der Zeit für eine andere Arbeit wäre. Auch für seine beste Freundin Graziela steht die Fassungslosigkeit über diese Vergangenheit im Mittelpunkt - bis sie einen Mann kennenlernt, der sie begehrt, und fortan die Begegnung der Geschlechter im Fleische für das Eigentliche hält ..."

Der Lesefluss wird immer wieder durch philologische Anmerkungen und Quellennachweise in Klammern unterbrochen - und durch leere Seiten: An zwei Stellen, jeweils nach einem krisenhaften Umbruch der Hauptperson, sind leere Seiten eingeschaltet, im zweiten Fall überschrieben mit "Raum für Notizen". Auch hier gelingt es mir nicht, das so zu stilisieren, wie es ein Kollege getan hat (Andreas Platthaus in der FAZ): "Das könnte man in einem Roman für einen billigen Gag erklären, doch das ist es nicht ... Die drei Vakatseiten folgen der scheinbar provozierendsten Stelle von „Das Eigentliche ...“ Und wenn die Leerseiten einfach aus einer drucktechnischen Notwendigkeit enstanden sind? Denn 176 Seiten sind durch acht teilbar ...

Und doch, ich bleibe dabei, auch wenn es widersprüchlich klingt - für das, was Iris Hanika zum Ausdruck bringen will, hat sie es gut geschrieben, virtuos geradezu. Bewegend wirkt die Passage (ab S. 129), in der Hans Frambach bei einem Besuch in Auschwitz den Weg der Häftlinge geht, dann aber doch plötzlich davon abweicht, sich frei macht. Auch kann die Autorin z.B. von innen heraus deutlich machen, wie man sich gelegentlich ins Frivole oder in den Witz retten muss - dazu zähle ich auch das wiederholte Lied: "Jedem Lied wohnt Auschwitz inne, / jedem Baume, jedem Strauch. / Jedem Lied wohnt Auschwitz inne / und jedem deutschen Menschen auch. / Fiderallala, fiderallala, fideralla lala la."

Der Schluss steht am Anfang (S. 7) und sei hier in voller Länge zitiert: "Es kommt eine Zeit, da fällt alles ab von einem, die Wut der jungen Jahre und das Leiden an der Ungerechtigkeit der Welt, auch die Zuversicht, sie würde besser werden oder sogar gut, wenn man sich nur genug darum bemühte und mit ganzem Herzen. Es kommt eine Zeit, da ist dieses Herz plötzlich leer geworden und der Mensch, auf sich selbst zurückgeworfen, ganz allein mit sich. Keine schöne Zeit."

Iris Hanika hat während der LiteraTour Nord an dritter Stelle gelesen - in Hannover am 9. Dezember 2010. Das Bild zeigt die Umschlaggestaltung des Verlages.

Iris Hanika: Das Eigentliche. Roman. Literaturverlag Droschl: Graz 2010. 176 Seiten, 19 Euro.