Von Stefan Sasse
In der BRD werden manchmal so viele Grundrechte gleichzeitig verletzt, dass man leicht den Überblick verliert. Man kann den Eindruck zumindest gewinnen, wenn innerhalb von Tagen die Wiedereinführung von Konzentrationslagern, Einschränkung der Pressefreiheit und Einschränkung des Demonstrationsrechts auf der Tagesordnung stehen. Da ist es gut, wenn beim Spiegel auch weniger bekannte Grundrechte verteidigt werden, auch wenn man sie dafür vielleicht erst einführen muss. Lisa Erdmann setzt sich aktuell dafür ein, dass die Millionen Arbeitnehmer, die derzeit unter der Belastung, schon mit 65 in Rente gehen zu müssen stöhnen, bald bis 67 arbeiten werden. In "Rente mit 67? Aber gerne!" schreibt sie das Hohelied auf die Herausforderungen der Demographie und dass das einzig Sinngebende im Leben Arbeit sei. Es ist geradezu absurd, welcher Argumente sich Erdmann dabei bedient. Sinnstiftend sei die Arbeit ja, ein Graus sei der Renteneintritt für viele, die unbedingt länger arbeiten wollten. Einen Beweis sieht sie dabei im Engagement gegen Stuttgart21, bei dem ja auch viele Rentner beteiligt sind.
Das Schlimme an dem Unfug ist, dass die grundsätzliche Überlegung ja gar nicht dumm ist. Die Lebenserwartung IST deutlich höher als 1957, und das Rentensystem wurde in einer Zeit geschaffen, in der Deutschland aus Trümmern wieder aufgebaut wurde und man nur von den Wenigsten erwartete, mehrere Jahre tatsächlich Rentenempfänger zu sein. Aber die Vorstellung, dass Millionen von Mallochern draußen im Land innbrünstig darauf warten, endlich zwei Jahre länger schuften zu dürfen (für die gleiche Rente im Übrigen!) ist einfach völlig absurd. Oh, sicher gibt es Berufe, in denen länger zu arbeiten kein Problem ist und in denen viele auch gerne länger arbeiten - Berufe, die Spaß machen und Selbsterfüllung bieten, von Journalist über CEO zu Politiker. Wie lächerlich war es, als Schäuble in Cicero erklärte, er würde gerne bis 67 arbeiten, warum also andere nicht auch?
Lisa Erdmann hat immerhin genug Realitätssinn um zu erkennen, dass der "in der Diskussion gern zitierte Dachdecker" nicht bis 67 über Häuserzinnen kraxeln wird. Sie fordert deswegen die altersgerechte Umstellung von Jobs und Begleitung durch den Arbeitgeber bis zum Ruhestand. Das ist soweit löblich. Sie offeriert aber nicht die geringste Vorstellung davon, wie diese schöne neue Arbeitswelt aussehen soll. Altersgerechte Jobs, begleiteter Übergang in die Rente - das klingt ja alles ganz toll. Aber wie soll's aussehen? Welchen altersgerechten Job wird der Dachdecker denn machen, wenn sein Rücken mit 55 ruiniert ist? Erdmann schweigt sich hier genauso aus wie alle anderen Apologeten der Rente mit 67 seit ihrer Einführung, und erst recht diejenigen, die die Rente mit 70 fordern.
Deswegen: ja, es braucht flexible Regeln zum Übergang in die Rente. Die gesamte Argumentation der Rente mit 67-Befürworter mit ihren Horrorgeschichten von Arbeitnehmern, die so gerne weiterarbeiten würden aber nicht dürfen lassen sich mit einer simplen Frage demontieren: warum gestaltet man dann die Regelung nicht freiwillig? Warum werden alle Menschen gezwungen, bis 67 zu arbeiten? Wenn so viele sinnstiftend weiter machen wollen ist es ja kein Problem, von 60 bis 70 alle Renteneintrittsalter zu ermöglichen. Nur, das wäre ja ein vernünftiger Vorschlag in einer Debatte, die nur dazu dient, die Renten zu senken - denn nichts anderes ist die Rente mit 67. Solange also kein einziger Vorschlag kommt, wie man das Ganze gestalten könnte, kann man Apologeten wie Lisa Erdmann nicht ernst nehmen. Und solange nicht hunderttausende für einen späteren Renteneintritt auf die Straße gehen, Meinungsumfragen aber ständig solide 70%+ gegen die Rente mit 67 ergeben, ist die ganze Diskussion reine Spiegelfechterei.