Die deutsche Ausgabe von „Fenster zum Tod" von Linwood Barclay wirbt damit, dass der Thriller „ein virtuoses Remake" des Filmklassikers „Fenster zum Hof" von Alfred Hitchcock ist. Diese Einordnung ist ein wenig übertrieben. Tatsächlich erklärte der in Kanada lebende Autor in einem Interview, dass die Idee für seinen Roman durch den Hund eines Freundes entstand. Die Parallelen zu Hitchcocks Streifen fielen ihm erst auf, als er mit dem Schreiben bereits begonnen hatte. Dieser Hund (er hieß Winston) wurde zufällig von einem Google Street View - Auto fotografiert, während er aus dem Fenster seines Heims schaute. Noch Jahre später war er online zu sehen. Das brachte Barclay zum Nachdenken: Was, wenn das Auto statt eines Hundes etwas wesentlich Böseres festgehalten hätte?
Nach dem plötzlichen Unfalltod seines Vaters ist der 37-jährige Ray Kilbridge für alles verantwortlich. Er muss die Beerdigung organisieren, er muss entscheiden, was mit dem Haus geschehen soll und er muss für seinen zwei Jahre jüngeren Bruder Thomas sorgen. Thomas leidet an Schizophrenie und ist nicht fähig, selbstständig einen Haushalt zu führen, weil er seiner speziellen Obsession nicht entkommen kann: Er ist besessen von Stadtkarten. Tag für Tag sitzt er Stunde um Stunde vor seinem Computer und schreitet virtuell die Straßen großer Städte ab. Bei einem dieser Streifzüge entdeckt er etwas Beunruhigendes. Die Kamera hat einen Mord festgehalten. Thomas ist außer sich, doch Ray ist nicht sicher, ob er ihm glauben kann. Hat sein Bruder tatsächlich ein Verbrechen beobachtet oder spielte ihm seine Krankheit einen Streich? Und wie sollen sie die Polizei überzeugen, zu ermitteln? Sie haben keinerlei Beweise, denn das Bild, das Thomas gesehen haben will, ist verschwunden ...
Für manche Bücher ist es wirklich nicht von Vorteil, dass ich mir so gut wie immer die Zeit nehme, ausführlich über meine Leseerfahrungen nachzudenken. Als ich meine Notizen zu „Fenster zum Tod" verfasste, war mein vorherrschendes Gefühl Langeweile. Ich fand den Thriller lahm, kritisierte diverse Punkte, die meiner Ansicht nach dafür verantwortlich waren und beließ es dabei. Nun sitze ich schon eine Weile an dieser Rezension und stelle fest, dass ich wütend darüber bin, dass mich „Fenster zum Tod" nicht fesselte. Ich bin wütend, weil ich den Eindruck gewonnen habe, dass Linwood Barclay halbherzig vorgegangen ist. Hätte er sich etwas mehr angestrengt, tiefere Recherchen betrieben, andere Entscheidungen getroffen, hätte er mich mühelos begeistern können. Hat er aber nicht und ich kann nicht nachvollziehen, wieso er sich nicht zusammenreißen konnte, um das Maximum aus seiner Geschichte herauszuholen. Er baut seinen Kriminalfall auf zwei Säulen auf: Einerseits präsentiert er das Dilemma, was zu tun ist, wenn man ein Verbrechen im Internet beobachtet; andererseits stellt er einen Hauptcharakter mit einer außergewöhnlichen Wahrnehmung vor, der stets als unzuverlässiger Zeuge gilt. Die Frage, wie man sich verhalten sollte, wenn man online mit Kriminalität konfrontiert wird, lässt „Fenster zum Tod" unbeantwortet. Barclay untersucht nicht, wie Ermittlungsbehörden mit Verbrechen umgehen, die im digitalen Raum dokumentiert werden, er beschreibt nicht, wie Zeug_innen solcher Verbrechen reagieren sollten, sondern zeigt einen Fall, der so speziell ist, dass er keinerlei Ableitungen zulässt und dadurch auch keinen Erkenntniszuwachs bietet. Als Thriller muss „Fenster zum Tod" allerdings keinen Bildungsauftrag erfüllen und ich finde es überhaupt nicht verwerflich, dass dieser Fall so speziell ist, gleichwohl ich glaube, dass hier Potenzial verschenkt wurde, weil das Thema brandaktuell und relevant ist. Es ärgert mich hingegen, dass Barclay offenbar entweder nicht den Mut oder nicht die Muße hatte, sich voll und ganz auf die höchst spezifische, vertrackte Situation des an Schizophrenie leidenden Thomas einzulassen. Statt Thomas als Ich-Erzähler zu etablieren und seine unkonventionelle Erlebenswelt in den Mittelpunkt zu stellen, setzt er auf das sichere Pferd und gesteht lediglich seinem Bruder Ray eine Ich-Perspektive zu. Ausgerechnet Ray. Ray, der Langweiler, der komplett überfordert mit Thomas ist, obwohl er mit ihm aufwuchs und die Schizophrenie in ihrer Kindheit diagnostiziert wurde. Ich verstehe es nicht. Thomas ist mit Abstand die interessanteste Figur in „Fenster zum Tod", wieso bemühte sich Barclay nicht um maximale Nähe, wieso durfte ich nie in seine Gedanken eintauchen? Darüber hinaus verzichtet er darauf, sein Krankheitsbild einzuordnen, was ich als sehr problematisch empfand. Weder erklärt er Thomas' Symptome noch thematisiert er, dass Schizophrenie heutzutage therapierbar ist und Betroffene häufig ein ganz normales Leben führen können. Er schafft einen Kontext, in dem Thomas stigmatisiert wird und erlaubt ihm nicht mal, sich zu wehren und seine Sicht auf die Welt und die Ereignisse darzulegen.
Ich empfand „Fenster zum Tod" als halbgare, dünne Suppe. Ich weiß nicht, warum sich Linwood Barclay offenbar nicht überwinden konnte, einen Schritt weiterzugehen und entweder Thomas zweifelsfrei als zentrale Figur zu inszenieren oder sich völlig auf die Thematik des digital bezeugten Verbrechens zu konzentrieren. Vielleicht hat er nicht ausreichend recherchiert, vielleicht erkannte er diese Möglichkeiten nicht. Ich glaube hingegen nicht, dass ihm die schriftstellerischen Fähigkeiten fehlten. Nein, ich bin ganz sicher, Linwood Barclay hätte „Fenster zum Tod" mitreißend und bedeutsam gestalten können. Deshalb fand ich die Lektüre enttäuschend, denn statt diesen extra Schritt zu gehen, beschränkte er sich auf einen banalen Thriller, der durch unnötige Nebenhandlungsstränge von den Kernaspekten ablenkt und nicht das Tempo oder den Nervenkitzel entwickelt, die ich erwartet hatte. Schade, dass Barclay meine Erwartungen nicht erfüllte. Schade, dass er sein Talent so wenig ausschöpfte.