Lilly Linder – Was fehlt, wenn ich verschwunden bin

Lilly Linder - Was fehlt, wenn ich verschwunden bin

Lilly Linder – Was fehlt, wenn ich verschwunden bin

Lilly Lindner wurde berühmt durch die Veröffentlichung ihrer Biografie „Splitterfasernackt" im Jahre 2011. Zugegebenermaßen ist dieses Buch an mir völlig vorbeigegangen. Der Name Lilly Lindner schob sich erst in mein Bewusstsein, als ihr neuster Roman „Was fehlt, wenn ich verschwunden bin" durch die Blogs tingelte und in höchsten Tönen gelobt wurde. Die Begeisterung der Blogger_innen war so groß, dass ich entschied, es lesen zu wollen, obwohl ich Bücher zum Thema psychische Erkrankungen mittlerweile eher meide. Was mich überzeugte, war, dass es sich bei diesem Buch um einen Briefroman handelt und Lindner die Perspektive einer Angehörigen einnimmt.

Für die 9-jährige Phoebe ist ihre große Schwester das Zentrum ihrer Welt. Niemand versteht sie so wie April. Doch nun ist April fort. Ihre Eltern haben sie in eine Klinik gebracht, weil sie krank ist. Phoebe versteht nicht, was Magersucht eigentlich bedeutet, aber sie spürt sehr genau, dass die Krankheit ihre Familie zerreißt. Allein mit Millionen Fragen tut sie das einzige, das ihr einfällt, um mit der Sehnsucht nach ihrer Schwester fertig zu werden: sie schreibt April Briefe. Obwohl sie niemals eine Antwort erhält, schickt sie fast täglich Worte hinaus in die Stille. Denn nur die Worte ermöglichen es Phoebe, die Leere, die April hinterlassen hat, einen kurzen Moment zu ertragen.

„Was fehlt, wenn ich verschwunden bin" ist das emotionalste Buch, das ich 2015 gelesen habe. Lilly Lindner ist eine beeindruckend talentierte Schriftstellerin, die eine extreme Nähe zu ihren Figuren erzeugt und auf diese Weise eine starke emotionale Resonanz provoziert. Ich konnte gar nicht verhindern, dass die Tränen in Strömen flossen. Es tat einfach so weh, diese Briefe zu lesen. Die Geschichte der beiden Schwestern hat mir wieder und wieder das Herz gebrochen. Ich wusste bereits vorher, dass Lindner nicht nur Phoebe eine Stimme verleiht, sondern auch April, doch darauf, wie intensiv ihre Verbindung ist und wie sehr sie einander in ihrer dysfunktionalen Familie brauchen, war ich nicht vorbereitet. Die beiden Mädchen sind hochintelligent und zutiefst missverstanden. Ihre Eltern sind von ihrer Intelligenz so eingeschüchtert, dass sie sie wie eine Krankheit behandeln. Sie sind überfordert und beschneiden die Kreativität ihrer Töchter, statt Phoebe und April angemessen zu fördern. Sie erwarten von ihnen, dass sie sich wie „normale" Kinder verhalten. April ist unter dem Druck, ihren Erwartungen gerecht werden zu müssen, zerbrochen. Ihre Magersucht ist ein verzweifelter, stummer Hilferuf, den ihre Eltern sich meiner Meinung nach schlicht weigern zu sehen. Sie interessieren sich nicht dafür, warum April nicht isst und verschwenden ihre Zeit lieber mit fruchtlosen Anschuldigungen. Dabei ist ihre Art, April zu behandeln, nur ein Ausdruck ihrer eigenen Hilflosigkeit und Ohnmacht. Sie wissen nicht, wie sie auf ihre Tochter eingehen sollen und reagieren deshalb mit Wut. Sie stellen die falschen Fragen - wie könnte April ihnen einleuchtende Antworten geben? Phoebe ist die einzige, die April erreicht, doch Phoebe ist ein Kind. Weder ist es ihre Aufgabe, April zu retten, noch ist sie stark genug, das volle Gewicht von Aprils Traurigkeit zu tragen.
„Was fehlt, wenn ich verschwunden bin" ist ein großartiges Buch, das mich emotional sehr mitgenommen hat, alle Dämme in mir brach und definitiv eine hohe Wertung verdient. Dennoch bin ich froh, dass zwischen dem Lesen und dieser Rezension etwa zwei Wochen lagen, in denen ich Zeit und den nötigen Abstand erhielt, diese gefühlvolle Geschichte objektiv zu betrachten. Je länger ich das Buch gedanklich sezierte, desto deutlicher wurde, dass mich aller Betroffenheit zum Trotz irgendetwas störte. Ich musste tief in mich gehen, um herauszufinden, über welche Kante ich immer wieder stolperte. Mein Problem mit „Was fehlt, wenn ich verschwunden bin" ist folgendes: ich sollte heulen. Ich hatte keine andere Wahl, als Mitleid mit Phoebe und April zu haben und Wut für ihre Eltern zu empfinden. Ich fühle mich von Lilly Lindner emotional manipuliert. Das Buch drückt absichtlich und wenig subtil auf die Tränendrüse. Es gestand mir sehr wenig Raum für eigene Gedanken und Gefühle zu; stattdessen habe ich vermutlich genau und ausschließlich das empfunden, was Lilly Linder von mir erwartete. Ich fühlte mich seelisch in eine Ecke gedrängt, als würde mich Lindner zwingen, so und nicht anders zu empfinden. Meines Erachtens nach hat sie deswegen auch darauf verzichtet, die hässliche, psychische Fratze der Anorexia nervosa zu zeigen. All der Zorn und die Zerrissenheit, die ich von einem magersüchtigen Teenager erwarten würde, fehlen April. Da ist kein Selbsthass, kein Selbstekel, keine einzige Empfindung, die für Leser_innen potentiell unverständlich sein könnten, sodass die Sympathie für sie ungetrübt bleibt. Ich verstehe zwar, warum es Lindner wichtig war, dass April in einem positiven Licht erscheint, doch ich fand das Bild des armen, missverstandenen, lieben Mädchens ohne Fehl und Tadel etwas einseitig und nicht völlig glaubhaft.

„Was fehlt, wenn ich verschwunden bin" habe ich auf verschiedenen Ebenen meines Ichs unterschiedlich wahrgenommen. Emotional war dieses Buch ungeheuer verstörend; intellektuell fielen mir ein paar kleine Makel auf. Trotz dessen ist es für mich nicht im Geringsten schwierig, eine Bewertung festzulegen, denn die Gefühlsebene ist der objektiven, analytischen Ebene gegenüber immer dominant. Wenn mich ein Buch so zum Weinen bringt wie dieses, muss sich das einfach in der Anzahl der Sterne niederschlagen.
Solltet ihr mit dem Gedanken spielen,„Was fehlt, wenn ich verschwunden bin" zu lesen, muss euch klar sein, dass das kein Spaziergang wird. Es wird weh tun. Es wird euch aber auch eine Krankheit näherbringen, die bis heute stigmatisiert und tabuisiert wird.
Ich für meinen Teil nehme aus diesem Buch vor allem eines mit: tiefe Dankbarkeit für meine wundervolle, unterstützende Familie.


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