Liebes Rübchen (4).

Von Nadine M Helmer
Auf dem Campo Santo Teutonico, Rom.

Heute morgen musstest du schrecklich weinen. Du hattest, unvermittelt wie es deine Art ist, beim Anziehen festgestellt, dass du noch nicht bald stirbst. Und dass du auch nicht möchtest, dass ich sterbe. Ich habe gesagt, dass alle Menschen und Tiere und Pflanzen einmal sterben müssen - aber dass wir ja dann im Himmel wieder zusammensein können, und dass es da schön ist. Dann hast du gefragt, ob du dein Schmusetuch dann mitnehmen kannst in den Himmel. Ich habe gesagt, dass man nichts mitnimmt, weil man dort alles hat. Seeehr schlau von mir. Die Unterlippe zuckt, du ziehst ein Schippchen. Maaahaaahain Schnüüühüüühüüüfel-tuuuhuuuch. Ich will aaabaaa maaahaaain Schnüüühüüüffeltuuhuuch...dann ist es ja gaahanz alllaaahiin...

Puh.

Ich glaube, bei keiner Frage sind Eltern so ratlos wie wenn es um Tod und Sterben geht. Ja, Sex ist noch so ein Ding, aber da wissen wir ja, worums geht - Glauben spielt da eher keine Rolle. Ich verstehe es doch selbst nicht, liebes Rübchen. Aber ich kann dir vielleicht was mitgeben. Eine Erfahrung.

Letzes Jahr ist meine Oma gestorben, einer meiner dicken Wurzeln im Leben. Irgendwie plötzlich. Den Gedanken schiebt man ja immer weg und gaukelt sich gern Ewigkeit vor, aber der Tod nimmt auf unsere Illusion keine Rücksicht. Ich hatte nie zuvor einen toten Menschen gesehen, fand die Vorstellung auch irgendwie gruselig und vielleicht auch abstoßend. Aber als ich erfahren hatte, dass sie tot ist, hatte ich den großen Wunsch sie zu sehen.

Die Umgebung im Bestattungsinstitut war wirklich grausig, das Gebäude hatte den Charme einer Garage, es war kühl, gefliest und sehr unpersönlich. Ich lief mit meiner Cousine an der Hand den langen Gang entlang zu dem Raum, in dem sie aufgebahrt lag. (Alle Wörter die mit Tod zu tun haben, klingen schrecklich, oder?) Zuerst habe ich sie als Spiegelung in einem Bilderrahmen gesehen, das sah surreal aus. Wir standen zuerst mit Abstand von einem Meter Respekt da, irgendwie musste ich mich erst mal mit ihrem Anblick vertraut machen. Wir haben geweint, eine Weile. Und dann bin ich zu ihr hingegangen. Habe ihre kalten Hände in meine genommen, sie waren mir so vertraut. Ich habe lange ihr Gesicht betrachtet und habe dabei etwas Essentielles gesehen - und auch etwas Essentielles verstanden. Ich konnte sehen und fühlen, dass sie nicht mehr da war. Sie war weg. So ein bisschen, als hätte jemand seine Klamotten ausgezogen und wäre weggegangen. Ich habe begriffen, dass sich der Körper von der eigentlichen Person getrennt hat. Mir wurde das so eindringlich klar, dass es mir, trotz meiner großen Traurigkeit, Zuversicht gegeben und mich unendlich getröstet hat. Ich wusste, dass der Tod mir keine Angst mehr machen würde.

Im Nachhinein wäre ich gern noch viel länger dort geblieben, hätte gern noch neben ihr gesessen, sie gestreichelt und sie angeschaut. Wir hatten nur leider einen komplett unsensiblen Trottel als Bestatter gehabt, der auf die Uhr schaute und sanft drängelte. Ich kann eigentlich nur jedem ans Herz legen, sich die Zeit mit dem toten Menschen zu nehmen, sich zu erinnern, mit ihm zu reden, zu schweigen und seinen Frieden zu machen - mit dem Menschen und mit dem Tod.

In der Zeit danach, hatte ich manchmal das Gefühl, sie bei mir zu haben. Das klingt sehr seltsam, aber ich konnte "hören", wie sie mir spricht. Ihre Person und ihre Stimme war stärker als eine Erinnerung, irgendwie innerlich hörbar. 

Was ich dir mitgeben kann, liebes kleines Rübchen, ist, dass man wohl immer irgendwie zusammenbleibt. Auch wenn ich mal tot bin, glaube ich fest daran, dass ich trotzdem bei dir sein kann, tief innen drin, im Herzen. Und die zwei kleinen, von mir geerbten, schiefen Zehen sind eh ein Teil von mir an Dir.

Und bis dahin machen wir uns ein schönes, buntes Leben.

Deine Mama, die dich unsterblich lieb hat.