Das Schicksal würfelt vier junge Menschen – drei Männer und eine Frau – zusammen. Das Geschwisterpaar Danilo und Ljubica Ilić – 24 und 15 Jahre alt – lernt Gavrilo Prinicip, einen Schüler und dessen Freund Nedeljko Čabrinović kennen, die beide 19 Jahre alt sind. Geschichtskundige kennen die Namen denn die jungen Männer gehörten zu jener Gruppe, die mit wenigen Gleichgesinnten das Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie in Sarajevo 1914 vorbereitet und durchgeführt haben.
Martin Vischer, Nicola Kirsch, Simon Zagermann sind zur Zeit im Theaterstück “Princip (Das Grab ist mir zu klein) von Biljana Srbljanović auf der Bühne des Schauspielhauses in Wien zu sehen. (Foto: © Alexi Pelekanos / Schauspielhaus / )
Als Drahtzieher im Hintergrund agierte Dragutin Dimitrijević, genannt Apis, serbischer Offizier und führendes Mitglied der nationalistischen Organisation „Schwarze Hand“. Der, so will es zumindest Biljana Srbljanović, in väterlich-insistierender und manipulierender Weise unter der Belgrader Jugend jene Männer rekrutieren konnte, die bereit waren, für ihr Land einen sicheren „Heldentod“ zu sterben.
Das Schauspielhaus Wien verfolgt mit seinen Produktionen in dieser Saison das Motto „100 Jahre Wahn & Sinn“, eingedenk des Jahrestages des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges im August 2014. Die in Serbien gefeierte Autorin Biljana Srbljanović erhielt vom Haus eine Auftragsarbeit und lieferte „Princip (Dieses Grab ist mir zu klein) ab, das am 16. Oktober seine Uraufführung erlebte.
Ausgewiesen als ein Werk, in dem auch der Frage nachgegangen wird „welche Formen der Nationalismus im gegenwärtigen Europa angenommen hat“ versteht die Autorin „ihr Stück auch als hochaktuellen Diskussionsbeitrag zu Idee und „Ethik“ des Terrorismus.“ Gerade der Gegenwartsbezug fällt in dieser Arbeit aber doch recht mager aus. Lediglich der auf die Seitenwände der Guckkastenbühne kurz projizierte Hinweis auf die Ermordung des ersten demokratisch gewählten serbischen Ministerpräsidenten Zoran Đinđić im Jahr 2003 zeigt eine kurze Klammer vom Gestern ins Hier und Heute auf – obwohl der Vergleich mehr als hinkt. Das Stück, das über zwei Stunden lang ist, beeindruckt nicht durch seinen vorgeblichen Jetztbezug, den die Thematik an sich tatsächlich hergeben könnte, sondern vor allem durch die künstlerische Beleuchtung der Personen ab jenem Zeitpunkt, ab welchem die Geschichtsschreibung sich von ihnen abwendet. Sie zeigt ihr Leid und ihre Haltung im Gefängnis, verdichtet auf die letzten Lebensstunden. In einem eindringlichen Surrounding, das vor allem durch extrem gute Lichtführung (Oliver Mathias Kratochwill und Kathrin Kölsch) und eine beeindruckende Soundunterlage (Barbara Wysocka) hervorgerufen wird, lässt Srbljanović die Protagonisten als gefolterte, halb verhungerte, und durch Tuberkulose gezeichnete Männer in ein Licht tauchen, welches ihre Charaktere menschlich aufrecht und liebenswürdig erscheinen lässt. Dabei haftet ihnen keine Spur von terroristischen Bestien an, als welche sie in den deutschsprachigen zeitgenössischen Gazetten dargestellt worden waren. Vielmehr, so schimmert zumindest der Verdacht durch, sind es ihre Richter und Peiniger, die mit ihrer Verurteilung der Tat und Folter menschenunwürdig agieren. Doch bis es zu diesen Szenen kommt, benötigt das Publikum etwas Durchhaltevermögen und auch Geschichtskenntnis.
Denn was beim Hauptattentäter Gavrilo Princip in der Plausibilität seiner Motivation für den Mord noch nachvollziehbar wird – die Zurückweisung bei der Musterung beim serbischen Heer, zu der er sich freiwillig meldete um seinem Vaterland einen Dienst zu erweisen und die damit verbundene Kränkung – funktioniert bei seinem besten Freund Čabrinović in der Bühnenargumentation überhaupt nicht mehr. Der junge Mann, der nachweislich in einer Druckerei arbeitete und dort auch mit anarchistischen Druckwerken in Kontakt kam und von dem Aussagen vorliegen, dass ein Leben ohne Bücher für ihn nicht vorstellbar sei, wird in der Inszenierung als holpertatschiger intellektueller Tiefflieger mit kindlichem Gemüt gezeigt. Bei ihm bleibt keine Spur von reflektiertem Anarchismus sichtbar, bestenfalls erklärt sich sein Tun als Bombenwerfer in der Bühnenfassung von Biljana Srbljanović nur durch eine gewisse Nibelungentreue – so dieser Ausdruck in Zusammenhang mit der Idee, alle Serben in einem Großreich zu vereinen, überhaupt statthaft ist. Simon Zagermann kommt diese fragwürdige Charakterdarstellung zu, die er aber in jedem Moment mit Bravour erledigt. Martin Vischer als getreuer Freund, der so manchen irrationalen Wutausbruch seines Kumpanen stoisch abzuwenden weiß, verleiht Princip große Glaubwürdigkeit und entspricht auch optisch verblüffend dem Erscheinungsbild des Mörders des Thronfolgerpaares.
Die Plausibilität der Charaktere, die vor allem im zweiten Teil des Abends zunimmt, vermisst man jedoch im ersten Teil ganz besonders. Hier hat Michal Zadara der schwachen Textvorlage mit seiner Regie, welche sämtliche Szenenwechsel offen zeigt (er zeichnet zugleich auch für die Bühne verantwortlich) nicht wirklich entgegenhalten können. So verkommen das Treffen der jungen Leute und die Darstellung des gemeinsam bestrittenen Weges, bis hin zum Entschluss, das Attentat durchzuführen, fast schon zu einem seichten Klamaukstück. Da helfen auch einzelne eindringlichere Szenen wenig. Wie zum Beispiel jene, in der Gideon Maoz (der wenige Tage zuvor im Nebenhaus auch in einem Stück von Anne Habermehl brillierte) als Danilo Ilić den Eid auf die Untergrundorganisation „Schwarze Hand“ schwört. Ungeachtet der vor allem zu Beginn des Stückes schwachen literarischen Vorgabe ist seine Interpretation dieses Charakters, der sich als Verbindungsmann zwischen Attentätern und Drahtziehern einsetzen lässt, in den letzten Szenen seinen sterbenden Genossen aber auch als Geist erscheinen muss, abermals bewundernswert. Nicola Kirsch fügt in ihrer rot-schwarzen Folklorebluse als jüngere Schwester Danilos der männlichen Gruppierung glaubwürdig einen Schuss Erotik hinzu, wenngleich man ihr kein 15jähriges Mädchen mehr abnimmt. Interessant wird erst in einer Art Epilog ihre Zuweisung als „erstes Opfer des Ersten Weltkrieges“ – sie stirbt an den Folgen des für den Thronfolger geplanten Bombenwurfs. In der österreichischen Geschichtsschreibung werden so stets Franz Ferdinand und seine Frau Sophie bezeichnet. Neben der darauffolgenden Glorifizierung der Attentäter ein weiterer Hinweis auf die auch heute noch je nach Nationalitätszugehörigkeit unterschiedlichen moralischen Beurteilungen des historischen Geschehens. Florian Manteuffel reüssiert als Strippen ziehender Geheimdienstler Apis erst in seinem Schlussauftritt, in welchem er kettenrauchend und angstbesessen im finsteren Verlies sein Schicksal beklagt und beteuert, dass er zu Unrecht hingerichtet werden wird. Seine Selbstverliebtheit, die er im ersten Teil der Inszenierung zur Schau trägt, lässt wie auch bei seinen Mitstreitern keine wirklichen Rückschlüsse auf die wahren Beweggründe seiner anarchistischen und nationalistisch motivierten Pläne zu. Die zur Schau gestellte Profilierungssucht eines Drückebergers in brenzligen Situationen überzeugt nicht wirklich.
Der Abend, an welchem die Leichtigkeit des jungen Seins den tragischen Konsequenzen von verurteilten Taten gegenübergestellt wird, hätte mit mehr psychologischem Tiefgang in der Behandlung der Figuren zu einem richtigen Erfolg werden können. So bleiben die Ovationen der vielen Landsleute der Autorin bei der Premiere zwar im Ohr. Ob sich das Stück selbst jedoch qua seiner Qualität auch durch eine lange Spieldauer auszeichnen wird, wird erst die Zukunft zeigen. Hier könnten die unterschiedlichen nationalistischen Brillen, durch die das Publikum auch heute noch in den Staaten Ex-Jugoslawiens und im deutschsprachigen Raum das Geschehen auf der Bühne verfolgt, auch eine gewisse Rolle spielen.