“Liebe wird das Ereignis sein?” ; Wir hören rein: Tocotronic – Rotes Album

„Bösartiger und süsser klangen wir wohl noch nie“ heisst es auf der Facebook-Seite der deutschen Musikgruppe Tocotronic, die es mittlerweile 22 Jahre lang gibt. Bei Bands, die schon lange mit dabei sind, wird natürlich gerne verglichen. Schaffen die es noch, Hits rauszulassen? Oder versuchen sie einfach nur noch sich selbst zu kopieren? Beide dieser Fragen stellt man sich jedoch nicht zu Tocotronic. Denn wirkliche „Hits“ produzierten sie nie und auch sich selbst kopieren liegt ihnen nicht. Wir hören uns einmal das elfte Album, das „Rote Album“ an, das seit heute auf der Tocotronic-Website zum Anhören bereit liegt.

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„Wir entkommen zur Zweit der Unsichtbarkeit“. Diese Zeile ist so überschwenglich und euphorisch wie das dazugehörige Lied: „Ich öffne mich“. Die Mitsingbarkeit ist im Vergleich zu älteren Tocotronic-Alben bemerkenswert. Es ist durchaus vorstellbar, dass eingefleischte Fans beim neuen Tocotronic-Album rot sehen. Zu emotional, zu weichgekocht, Lyrics wie bei Kettcar oder den Sportfreunden?

Über die zweite Vorabsingle (“Die Erwachsenen”), die seit mehreren Monaten anzuhören ist, wurde bereits gestritten: Auf der Tocotronic-Facebook-Seite gibt es sowohl positive („Klingt ja wie New Order“ / „BOAH IST DAS GUT“) als auch negative („Hmm, so wirkliche Vorfreude aufs neue Album kommt da nicht auf“ / „früher wart ihr besser“) Stimmen. Auffällig poppig ist das „Rote Album“ schon. Der metrische Grundschlag ist niemals langsam, die Melodien sind immer präsent. „Rebel Boy“, der vierte Track, steht für vorig Gesagtes exemplarisch. Die Vorliebe der Englisch-Deutsch-Sprachmischung ist spätestens seit der österreichischen Band Ja! Panik nicht mehr neu. Ich frage mich ein bisschen. Aber vielleicht ist das ja gut.

„Check dich mit mir ein, kannst du mich befreien?“

Diese Frage wird in „Rebel Boy“ gestellt. Eine Antwort auf diese Frage existiert nicht, denn „die Wörter fliegen hoch“. Und das im nächsten Song namens „Chaos“. Dieses Stück überschneidet sich schon mehr mit der gängigen Tocotronic-Verworrenheit. Der Text ist so wirr, dass er alles und nichts bedeuten kann. „Spiralen“ ist im Vergleich zu anderen Songs auf dem „Roten Album“ eher ein gemässigtes Stück. Dafür gibt der Text ein grosses Stück Feingefühl zur deutschen Sprache preis.

Viele Lieder sprechen an, vielfach wird an ein “Du” apelliert. “Zucker” ist ein Track dieser Konsorte. Dieses Lied ist ein Konfekt der deutschen Wortakrobatik. Gleichzeitig sind die Gitarren etwas uninspiriert. Was vordergründig wie ein schnulziges Liebeslied wirkt, entpuppt sich bei genauem Hinhören als eine kleine Gesellschaftskritik. “Sie Irren” spurt da mit ein. Die Lieder gehen gegen den Strich, sind jedoch keine Kapitulation vor dem Wichtigen. “Sie Irren” ist eine kleine, poetische Kampfansage an die Festgefahrenheit. Der im Stück angesprochene Müll steht allegorisch für das Schlechte oder … einfach für Müll?

Müll? Das “Rote Album” ist es sicherlich nicht. Im Vergleich zum Vorgängeralbum “Wie Wir Leben Wollen” wage ich sogar zu behaupten: Dass Tocotronic kreativer geworden sind. Und ja, ich bin halt ein – Achtung furchtbares Wort folgt –
Fan.

“Ich hafte an dir, wie ein Sticker an der Tür.”


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