zunächst möchte ich mich für den (nicht) leicht entzifferbaren Brief, der mich in den heutigen Abendstunden (nicht) erreichte, bedanken. (Es ist anzunehmen, dass er sich bereits seit dem Nachmittag im Briefkasten befand, befördert von der hektisch einsortierenden Hand des Briefträgers, aber unentdeckt dort verlieb, weil ich die meiste Zeit damit beschäftigt bin, in die Gegend zu glotzen, was nicht so einfach ist, wie es sich anhört. Jede Ecke will mit einem Blick bedacht sein, auch die Lampe, die östlich von mir mit gesenktem Kopf aufgegeben hat, will wieder mit einem Augenklimpern in den Kreis der mit Aufmerksamkeit überschütteten Gegenstände aufgenommen werden.)
Sie berichten im Brief von ihren Tomaten, zu denen – ich gestehe dies frank und frei ein – mir jede Beziehung fehlt, nicht nur zu Ihren Tomaten, sondern zu Tomaten im Allgemeinen, die von mir meist nur in halbierter Form wahrgenommen werden, und auch dann erst, wenn der Heißhunger sie mir im Hals stecken lässt. Ein Hustenreiz ist die Folge, ein kurzer Blick ins helle Licht jener Gefilde, die wir so beiläufig als Jenseits betiteln; dabei sollten wir uns mit diesen Landschaften bereits zu Lebzeiten beschäftigen, werden wir sie doch nach unserem Ableben nicht nur gemessenen Schrittes vermessen wollen, sondern auch feststellen müssen, dass wir überhaupt keine Füße für Schätzungen dieser Art zur Verfügung haben, selbst ein Hals, darin sich Tomaten verhaken können, wird uns abgehen. Wir werden nicht mehr sein, und dies, Sie werden mir sicherlich zustimmen, sollten uns keine Ruhe lassen, sollte uns in jene Unruhe treiben, die sich in zahllosen sexuellen Eskapaden und nicht enden wollenden Lachanfällen zum Ausdruck bringt.
Da wir nun schon einmal beim Ausdruck wären, möchte ich noch auf den von Ihnen ins Briefspiel gebrachten Anders Breivik eingehen, den sie, da er ein – von mir nicht gelesenes – Pamphlet schrieb, dessen Seitenzahl sich irgendwo über die Tausend streckt, als Autor bezeichneten. Dem muss ich wiedersprechen, gibt es doch eine Unzahl von Textproduzenten, die weitaus weniger Buchstaben zu Papier brachten, die ich deshalb aber zu keinem Zeitpunkt “Autor” oder gar “Schriftsteller” nennen würde. Aber wenn ich sie in einen Begriff sperren müsste, dann wohl ins Wort “Autor”, das der gewerblichen Herstellung von Literatur noch am Nächsten kommt.
Mit Genuss nahm ich von ihren Bemühungen Kenntnis, sich in der russischen Sprache zu üben. Es war keine Überraschung für mich, verfolge ich doch ihre virtuellen Luftsprünge, Seufzer und Verwünschungen über die sich unablässig verändernde Straße Facebook, die von Nachrichten und Videos überlaufen, nah an einem Verkehrskollaps scheint.
Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen, dass ich Ihnen nicht auf einem echten Briefbogen antworten werde, da ich – Sie werden es ahnen – keine Zeit habe, bin ich doch zu sehr mit dem Anstarren der heimischen Wände beschäftigt, deren Flüstern mich zwar auffordert, am neuen Roman zu arbeiten, der aber warten kann, solange zumindest, bis ich hinter das Geheimnis der Tür gekommen bin, die mich von dem Zimmer scheidet, das ich nicht betreten darf. Dort wäre nichts, was mich interessieren würde, beruhigt mich meine Frau unablässig, aber sie spricht es mit dem unterdrückten Lächeln einer Wissenden, die mich davor behüten will, tatsächlich in jenen Bereich des Hauses zu gelangen, den Besucher Treppenhaus nennen. Sollte es tatsächlich eine Welt außerhalb dieser Zimmer geben? Vielleicht sollte ich mich Planungen hingeben, die mich in die Weiten dieser Außenwelt entführen, um so der Menschheit noch unentdecktes Land offerieren zu können. Ich werde mich wegen eventuelle Reisekosten an die spanische Königin wenden. Bis es soweit ist, verbleibe ich mit den menschenfreundlichen Grüßen eines ausgemachten Misanthrop.
Hochachtungsvoll und tiefverbeugt im Jahre des Herrn 2012
Guido Rohm
