Liebe in den Zeiten der Choleriker

Familie ist die letzte Ideologie unserer Zeit.
Früher standen Tips gegen Familien-"Zoff" an Weihnachten auf den hinteren Seiten von Illustrierten. Inzwischen platziert man sie kurz vor Weihnachten auch auf den Webseiten des Qualitätsjournalismus. Vielsagend neben den "wahren Ursachen" von Burnout und Kindermangel.
Demnach begehen wir alle das Fest der Liebe, der Kinder, der Familie usw. nicht mehr aus innerer Freude sondern nur noch zur Bedienung einer ins nicht mehr Erfüllbare gesteigerten Erwartungshaltung. Erwartungshaltung - von wem und an wen, und mit welchem Recht?
Es genügt ein "falsches" Geschenk, ein falsch geschmückter Baum, das falsche Essen, die falsche Kleidung. Das sollen im Ernst Auslöser für schwere innerfamiliäre Ausbrüche sein, die das größte Fest des Jahres aus dem Stand heraus platzen lassen können, schreiben die Zeitungen. Hans-Dieter Hüsch hat das vor Jahren schon mal vertont, allerdings noch ohne, dass es einer FSK Klassifizierung bedurft  hätte.
Oder ist es so, dass immer mehr pflichtbewusste Eltern und Kinder zuerst den Faden und dann die Geduld verlieren und das von der Politik ganzjährig verkündete Credo von Familie nur noch als kollektiven Zynismus empfinden? Ein Zynismus, für den der Konsum lange eine Ausweichroute war, aber inzwischen auch keine Betäubungen und Verdrängen mehr bewirkt?
Weihnachten ist kaum drei Wochen her, aber wir haben schon drei Zeitungsberichte über dramatische familiäre Enthüllungen von Prominenten: Die Wulffs, die Kinskis und die Gabriels.
Die Wulffs als gescheitertes Mittel, uns geschmacklose Mittelmäßigkeit als neuen Lebens- und Führungsstil unterzujubeln. Christian soll laut dem Bochumer Dramaturg Thomas Laue in einer seiner letzten Nächte als Bundespräsident durch Schloss Bellevue gelaufen sein und sich immer wieder laut gesagt haben: "Ich bin der Bundespräsident, ich, ich, ich." So redet, wer Größe behauptet aber nicht einlösen kann, sagte Laue im Dradio. Also wie jemand, der seiner Familie eine Trophäe bringen wollte, spät erkennt, dass ihm der Preis zu hoch ist und um Erlösung von der Erwartung bittet. Und bereits während seiner Rücktrittserklärung zieht seine Gattin ihr emotionales Investment in ihn zurück. Ein brutal klares Bild von bedingter Liebe, Macht und Familie als PR-Fassade. In Richard Yates' Roman "Zeiten des Aufruhr" gibt es eine Szene, in der der vermeintlich geistig behinderte Nachbarjunge auf Aprils Schwangerschaftsbauch zeigt und sagt: "Ich möchte nicht dieses Kind sein."
Pola Kinski outete diese Woche, von ihrem Vater sexuell missbraucht worden zu sein. Sie zitiert ihren Vater: "Andere Väter machen das auch mit ihren Töchtern." Ach so.
Sigmar Gabriel berichtete von seinem Nazivater, der ihn prügelte. Und den zu widerlegen vermutlich der lebenslange Antrieb für die Karriere als Berufspolitiker war und ist.
Wie groß ist die Dunkelziffer familiärer Gewalt? Und bekämpfen wir nicht die eigene dunkle Vergangenheit, wenn wir mit dem Finger auf die Ehrenmorde und Cosanostras von Einwandererfamilien zeigen? Die aggressiven FAZ-Leserkommentare zum Artikel über Pola Kinski (Link) sprechen jedenfalls Bände. Die Kinderspsychologin Alice Miller fand heraus, dass sich Kinder, und zwar besonders die intelligenten, sensiblen ihren Eltern um so bringe-schuldiger fühlen, je schwieriger diese ihnen den Zugang machen (Link).
Das wirkt mitunter ein ganzes Karriereleben. Ich glaube inzwischen, dass die meisten Vorstandsvorsitzenden in Wirtschaft, Politik, Vereinen, Sekten unbewusst eine Erwartungshaltung ihrer Eltern verfolgen, um die Bedingung zu erfüllen, doch noch angenommen zu werden. Denn in einer Beziehung gibt nicht das bedingungslose Commitment Macht über den anderen, sondern, den anderen in permanenter Unsicherheit zu halten, so dass er um das Commitment kämpft. So verfahren z. B. Eltern, die es vorziehen bei Tisch zu schweigen.
Und eigentlich können wir auch die ertappten institutionellen Ersatzerziehungsberechtigten einreihen: Internatslehrer und Priester. Sie predigen Familie, suggerieren den ihnen Anvertrauten Familienersatz, nur um ihre Macht für eigene Triebe zu missbrauchen.
Und wenn wir schon über Religion als Vorwand zur Machtausübung sprechen: Gehört nicht  auch die Debatte über die Beschneidung dazu? Aber das sollten die Betroffenen selbst sagen.
Brigitte Zypries benutzte die Beschneidungsdebatte jedenfalls, um ihrer Vorstellung vom "Recht am Kind" Ausdruck zu geben. Ich kannte den Begriff bis dahin nicht, aber man recherchiert schnell, dass es dabei ums Sorgerecht geht.
Sorgerecht oder -pflicht? Sieht Zypries das Recht auf Beschneidung durch das "Recht am Kind" gedeckt? Das mutet mich mittelalterlich an. Welche Rechte haben Kinder gegenüber ihren Eltern? Doch wohl auch eines auf körperliche und seelische Unversehrtheit.
Es ist egal, ob ein Kind in die Hände staatlicher Erzieher oder Angehöriger gelegt wird, solange der- oder diejenige sich wirklich kümmert. Dem Kind etwas gibt und nichts von ihm erwartet, vor allem nichts zur Bedingung macht, unter der er ihm etwas gibt. Das ist es ja, was die Eltern-Kind-Beziehung so besonders und so schwierig macht.
Die Familie ist die erste Abstraktion von sich selber, die erste Gruppe, die das Kind wahrnimmt und in der es lernt, dass es andere gibt, und dass diese für es da sind. Familie ist noch ein Begriff, der auf Blutsverwandschaft basiert. So wie der alte Begriff von Nation. Der war früher die zweite Abstraktion, nämlich die Erweiterung von Familie. Diesen Begriff halten wir inzwischen für überholt, weil wir biologische Kriterien für Nation als Ausdruck von Rassismus ablehnen.
Um den Begriff von Familie kämpfen wir gerade. Wenn ich mir anschaue, wie viele  Familienoberhäupter zu Hause wie Tyrannen über den Partner und die Kinder regiert haben oder es noch tun, das steht manchen Diktatoren in nichts nach. Wenn es mit der Karriere, den Ansprüchen -ob eigene oder wiederum von den eigenen Eltern übernommene- nicht klappt, dann bleibt ja immer noch die Familie, wo man seinen Machtanspruch austoben kann. Unter dem besonderen Schutz von Kirche und Staat, sozusagen. Liebe in den Zeiten der Choleriker.
Ich frage mich, ob wir den Schritt nicht machen müssen, Familie nicht mehr länger auf Biologie zu gründen, sondern als Gemeinschaft derer, die Fürsorge, Verantwortung und Liebe für ihr Kind wahrhaftig leben. Unsere Familienideologie muss entrümpelt werden.
Wir tun das ja eigentlich schon, indem wir unseren Partner frei auswählen und nicht mehr von den Eltern aussuchen lassen. Übrigens ein immer noch sensibler Schritt in der Emanzipation von den Eltern. Nicht die Pubertät bringt die Phase der Ablösung sondern die Hochzeit eines Partners, mit dem die Eltern nicht "einverstanden" sind. Allein die Tatsache, das sie glauben, gefragt werden zu müssen, ist ein Relikt aus despotischen Zeiten. Und das erste Weihnachtsfest, bei dem man der eigenen Familie Vorrang vor den Eltern (bzw. schon Großeltern) einräumt, die erste Bewährungsprobe. Ich glaube, davon kann jeder ein Lied singen.
Beziehung gründet sich auf Vertrauen. Vertrauen entsteht durch Vorschuss, der in gemeinsamen Erlebnissen gerechtfertigt und zurückgezahlt wird. Das kann man auch auf die Familie und auch auf die eigenen Eltern anwenden, indem man sich fragt, welche gemeinsamen Erlebnisse die Beziehung zu den Eltern definiert haben. Wem da nur physische und seelische Verletzungen einfallen, der sollte über Korrekturen nachdenken.
Die Familie qua Geburt wird man nicht los, auch wenn sie einen schlecht behandelt haben. In Gelsenkirchen wurde ein Fall bekannt, in dem ein Mann, den seine Mutter als Kind ins Heim abgeschoben hatte und nichts mehr von ihm wissen wollte, später zur Finanzierung ihres Pflegeheimplatzes herangezogen wurde, nur weil er leiblich immer noch ihr Sohn war. Oder man stelle sich vor, wenn es mit der Karriere ihres Vaters nicht so gut gelaufen wäre, hätte Pola womöglich Unterhalt für ihn zahlen müssen, weil Blut vor Moral geht.
Deshalb fordern inzwischen einige Politiker ein Scheidungsrecht für die Eltern-Kind-Beziehung. Die Scheidung von den Eltern soll die Kinder von der Pflicht entbinden, später für ihre Rabeneltern aufkommen zu müssen. Ich kann mir vorstellen, dass das manche Eltern, vor allem Väter, etwas anders an ihre Erziehungsaufgaben herangehen lassen könnte.

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