Julie Delpy und Ethan Hawke in “Before Midnight” (Int. Premiere auf der Berlinale 2013, Deutschlandstart am 6. Juni)
Es waren die späten 1980er Jahre, die Filmemacher Richard Linklater die wohl größte und unter Filmkritikern bestens aufgenommene Idee seines Lebens einbrachten. Und das sagt sich leidlich schwer über einen Mann, der großartige Filme zu verantworten hat. Filme wie „Confusion – Sommer der Ausgeflippten“ („Dazed & Confused“) über eine ganze Schar von Teenagern im drogenreichen Hippie-Jahrzehnt, hier explizit auf das Jahr 1976 konzentriert. Aber auch spätere Werke wie „School of Rock“, eine harmlose Schulkomödie mit Jack Black in der Hauptrolle, eine Neuauflage zu „Die Bären sind los“ oder Sci-Fi à la „A Scanner Darkly“. Mitnichten mögen diese Werke unter Filmliebhabern unterschiedlichste Reaktionen hervorrufen, aber wenn es um seine „Before“-Reihe geht, die er mit seinen Hauptdarstellern Ethan Hawke und Julie Delpy immer wieder in neue Bahnen lenken konnte, so sind die Stimmen sich oftmals einig: eine großartige, filmische Hinterlassenschaft. So heißt es in der Frankfurter Neuen Presse, Linklater umgebe seine Geschichte mit einem Zauber und einer Natürlichkeit, wie sie im Kino rar geworden sei. Und Filmkritiker Roger Ebert meint über „Before Sunrise“, der Film wäre wie das wahre Leben, wie eine Dokumentation mit einer unsichtbaren Kamera gefilmt. Oft würden ihn die Unterhaltungen des Films an ebenso wahre Gespräche erinnern, die er selbst mit mehr oder weniger denselben Worten geführt habe.
Zurückzuführen ist die Idee zu „Before Sunrise“ auf eine Begegnung Linklaters mit einer jungen Dame in einem Spielzeuggeschäft in Philadelphia. Es war 1989. Mit dieser Frau schlenderte der Filmemacher durch die Straßen, in ein Gespräch versunken merkte man offenbar nicht, wie der Tag immer weiter voranschritt, noch in der späten Nacht unterhielt man sich angeregt über die unterschiedlichsten Themen. Hieraus nahm Linklater die Inspiration für „Before Sunrise“, später natürlich auch für „Before Sunset“ und „Before Midnight“. Er schickt Ethan Hawke und Julie Delpy immer wieder auf die Reise: durch Wien, Paris und Griechenland. Das Drehbuch zu „Before Sunrise“, dem ersten Teil der Reihe, schrieb er in gerade einmal elf Tagen, bis er jedoch seine beiden Hauptdarsteller gefunden hatte, mussten neun Monate vergehen. Eine wahrlich schwere Geburt, aber sie hat sich ausgezahlt. Selten hat man ein Schauspielduo auf der Leinwand erblickt, das über eine solch intensive Harmonie verfügt, wie es bei dem Texaner Hawke und der Pariserin Delpy der Fall ist. Sie spielen Jesse und Celine, zwei Menschen die hier nicht etwa durch eine Handlung geführt werden, sondern selbst die Handlung sind. Die Kamera folgt ihnen, es ist ein Gang durch die Straßen. In „Before Sunrise“ ist es Wien, quasi eine Stadt als heimlicher Nebendarsteller. Die schönsten Plätze werden von Jesse und Celine durchlaufen, fallen dem Zuschauer sicherlich auf, während die Protagonisten sich durch Gespräche miteinander selbst charakterisieren. Sie reden über Beziehungen, Vorstellungen und Wünsche, wie sie selbst Beziehungen erlebt haben und wie es um ihren momentanen Status bestellt ist. Sie reden über die Liebe, über das Verhalten von Frau und Mann, nehmen dabei die Perspektive von Anfang 20ern ein. Dementsprechend agieren sie noch unbekümmert, streifen durch die Welt um den Sinn des Lebens zu erfahren. Auf dieser Reise, ganz spontan und zufällig, lernen sie sich in einem Zug kennen. Celine flüchtet vor einem deutschsprachigen Ehepaar welches sich lautstark streitet, setzt sich in unmittelbare Nähe von Jesse. Hier beginnt die lange Historie dieser beiden Menschen, die sie am Ende – wenn es denn wirklich eines ist – bis nach Griechenland („Before Midnight“) führen wird.
Ethan Hawke und Julie Delpy in “Before Sunrise”
Man kann sich ab diesem ersten Treffen dieser beiden Menschen nicht mehr verwehren, zu interessant diskutieren sie sich durch die Liebe, das Leben und andere gesprächswürdige Themen. Die Figuren gewinnen durch ihre Unterhaltung so sehr an Tiefe, dass sie mehr von sich preis geben als jedwede andere fiktive Filmgestalt. Es entfaltet sich ein ganzer Lebenslauf, nur durch das gesprochene Wort, durch das Miteinander dieser beiden Menschen, die sich nach und nach ihre Liebe gestehen, immer aber auch im Hinterkopf behalten, dass ihre Zeit nur bis zur Abfahrt des morgendlichen Zuges währt, sie dann wieder getrennte Wege gehen werden. Vielleicht auch das ein Umstand, der sie mehr erzählen lässt als es eigentlich nötig wäre. Das jeweilige Gegenüber ist eine Urlaubsbekanntschaft, so glauben sie jedenfalls. Sie können ja nicht ahnen, dass sie viele Jahre später wieder aufeinandertreffen würden. Obgleich sie bei ihrer Verabschiedung planen, sich bereits sechs Monate später wieder zu sehen. Hier erscheint jedoch nur Jesse, wie man in „Before Sunset“ erfährt.
Die Erinnerung an diese eine Nacht wird sich bei beiden tief verwurzeln. Diese Nacht voller Kleinkünstler, die durchs Leben vagabundieren wie auch Jesse und Celine durch Wien ziehen. Eine Wahrsagerin sagt Celine ihre Zukunft voraus, ein Straßenpoet dichtet romantische Zeilen um einen Milchshake und eine Tänzerin bringt schwungvolle Rhythmen in das nächtliche Wien. Aber bei Morgengrauen, wenn die Sonne aufgegangen ist, sind sie alle verschwunden, ebenso wie von Jesse und Celine nur eine leere Flasche Wein und zwei Gläser im Park übrig bleiben. Er fliegt wieder in die USA, sie fährt heim nach Paris. Doch beide mit einem Lächeln im Gesicht. Vielleicht denken sie zurück an diese eine Minute, in der auch die Kamera ganz dicht bei ihnen ist, wenn sie in einem Schallplatten-Laden in einer Kabine stehen um genüsslich der entdeckten Musik zu lauschen, dabei wie weitaus jüngere Inkarnationen ihrer selbst immer wieder zueinander schielen, leicht lächelnd, aber auch abwartend. Sie wollen sich küssen, verpassen aber immer den Blick des anderen. Es ist ein Spiel, ein romantischer Moment zwischen zwei Menschen, die hier gar nicht so sehr zu spielen scheinen. Blindes Verständnis. Von dieser Harmonie lebt diese von Richard Linklater erschaffene Welt, in der es Menschen wie Jesse gibt, die die Hoffnung nach Romantik nicht aufgeben wollen, Menschen wie Celine, die an die Romantik glauben, ihr aber skeptisch begegnen.
Ethan Hawke und Julie Delpy in “Before Sunset”
Noch viel mehr als in „Before Sunrise“ wird in„Before Sunset“ diese Unbeschwertheit deutlich. Nicht zuletzt stellt sich hier die Kameraarbeit von Lee Daniel mit in den Vordergrund. Wenn Celine den wiedergefundenen Jesse durch die verwinkelten Straßenzüge von Paris dirigiert, „dort entlang“ und „hier entlang“ zeigt, meint man, sie führt zugleich auch die Kamera durch den Film. Immer auf die beiden gerichtet, verweilt das Bild auf diesen Menschen, die trotz den vielen Jahren die seit ihrer letzten Begegnung vergangen sind, genau dort wieder ansetzen, wo sie aufgehört haben. Der erste Besuch führt sie in ein kleines Eck-Café, wo sie sogleich eine filmische halbe Stunde verbringen und wieder einfach nur miteinander reden. Das ist dann nicht eine langweilige Fortsetzung, sondern ein Reifeprozess. Denn inzwischen geht es nicht mehr nur um die Träume, das eventuelle Leben, sondern um das Leben, das sie nun führen. Es geht um Jesse, der inzwischen ein erfolgreicher Buchautor geworden ist und um Celine, eine Aktivistin für eine bessere Welt. Beide haben an dieser Stelle ihres Lebens die schicksalsträchtige Begegnung von vor vielen Jahren nicht wirklich verarbeitet, beziehungsweise ihre jeweiligen Wege gefunden mit„Before Sunrise“ umzugehen. Jesse hat ein Buch geschrieben, eine fiktionale Geschichte dessen, was ihm damals wiederfahren ist. Celine hat ein Lied darüber gedichtet. Und da sind sie wieder, die Kleinkünstler, die offenbar auch ihre Wirkung auf das Paar entfaltet haben. Ihren Song wird Celine Jesse am Ende vorsingen und dazu auf der Gitarre spielen. Und ebenso wie dem Zuschauer am Ende des ersten Teils unklar geblieben ist, ob diese beiden Menschen sich nach den ausgemachten sechs Monaten wiedersehen würden, blendet hier nun, in Celines Apartment, die Kamera aus. Die letzten Sätze bleiben „Du wirst deinen Flug verpassen“ und „Ja, ich weiß.“
Die Realitätsnähe macht Richard Linklaters Filme, die er später gemeinsam mit Ethan Hawke und Julie Delpy geschrieben hat, so sehenswert, auch wenn nicht mehr geschieht als dass man als Zuseher einer Unterhaltung zuhört. Warum nicht ein Hörbuch hören, könnte man sich fragen. Ein Hörbuch mit Stimmen, die sich über existenziell interessante Fragestellungen austauschen. Hier aber sprechen Hawke und Delpy durch ihre Anwesenheit noch weitaus mehr aus. Wie in der besagten Szene im Schallplattenladen. Liebe im Wandel der Zeit, so könnte man die Trilogie zusammenfassen. Wie verändert sich die Weltsicht mit den Jahren? Wie sprechen ein Anfang 20jähriger Mann und eine ebenso junge Frau, wie entwickeln sie sich und ihre Vorstellungen vom Leben? Worüber kreisen ihre Gedanken in ihren 30er Jahren und was werden sie mit 40 denken? Mit all den inhaltsvollen Gesprächen, mit den tief ausgeprägten Charakterzügen der Figuren, die sich dem Zuschauer offenbaren, mit diesem leichten Spiel von Ethan Hawke und Julie Delpy, der offenbaren Leichtigkeit der Inszenierung, hat Richard Linklater sich mit „Before Sunrise“, „Before Sunset“ und „Before Midnight“ eine der wohl sehenswertesten Trilogien erschaffen sowie ein romantisches Paar, das Ihresgleichen sucht.
„Before Midnight“ wird seine Internationale Premiere auf der Berlinale 2013 feiern.