Der Mann, der Garten und die Vögel
Es war einmal ein Mann, der lebte in einem wunderschönen Garten. Der war voller Blumen und seltener Pflanzen, und die edelsten Bäume spendeten wohltuenden Schatten.
Ein süßer Duft von Jasmin und Rosenblüten durchwehte seine Pinienalleen. Weißer und roter Oleander beugten sich tief in die Wege und warfen ihre Blüten in die Haare der Vorübergehenden. Überall sprudelten kleine Wasserquellen, auf deren Wellen Blätter wie Segelschiffe auf und ab wogten.
Das Wundersamste an diesem Garten aber waren seine Vögel. Jeden Morgen, sobald die Nacht ihr schwarzes Kleid abgelegt hatte, hub ein vielstimmiges Konzert an, das erst hier und da begann, so als würden sich die Sänger einstimmen, und schwoll dann zu einem großen Chor, der vom Wind weit hinausgetragen wurde in das Land, sodass sich viele daran erfreuen konnten.
Der Mann wurde Morgen für Morgen von diesem Konzert geweckt und er liebte den Gesang der Vögel, die bis an sein Fenster flogen und ihn mit ihrer Stimme begrüßten.
So ging es viele Jahre und immer neue Vögel entdeckte der Mann in seinem Garten: bunte und graue, große und kleine, Vögel mit heller und Vögel mit dunkler Stimme.
Manche Vögel wohnten ständig in seinem Garten, andere kamen eine Zeit lang und wurden dann nie mehr gesehen, wieder andere ruhten sich eine Weile aus, ehe sie auf ihren uralten, geheimnisvollen Straßen weiterflogen, um später einmal wieder zu kommen.
Den Mann aber machte es traurig, dass nicht alle Vögel ständig in seinem Garten blieben. Er fragte sich: "Warum fliegen die Vögel weiter? Haben sie in meinem Garten nicht alles, was sie brauchen?" Und unruhig überlegte er, was er tun könnte, um sie alle immer bei sich zu halten.
Eines Tages errichtete er draußen vor dem Garten große Schilder:
"Zuflug nur für Vögel, die bleiben!" Und im Garten standen Schilder: "Ausflug verboten!"
Da die Vögel aber seine Schrift nicht lesen konnten, blieb alles wie vorher. Die Vögel kamen und flogen davon, andere blieben eine kurze Zeit oder kehrten in Abständen zurück, und wieder andere nisteten und wohnten für immer im Garten des Mannes.
Als der Mann merkte, dass seine Schilder nicht beachtet wurden, ärgerte er sich sehr und seine Traurigkeit wurde noch größer. Da baute er eines Tages eine hohe Mauer um seinen Garten, höher als alle Bäume.
"Wenn die Vögel die Welt draußen nicht mehr sehen, dann werden sie schon hier bleiben", dachte der Mann. Aber er hatte vergessen, dass Vögel alle Mauern überfliegen können, mögen sie noch so hoch sein. So änderten auch die Mauern am Flug der Vögel nichts - außer, dass die Sonne nicht mehr ungehindert in den Garten scheinen konnte und es an vielen Stellen dunkler war.
"Wenn die Vögel meine Schilder nicht lesen und meine Mauern überfliegen, werde ich wohl ein Netz über den Garten spannen müssen" , sagte der Mann, "dann kann kein Vogel entweichen, und die Zugvögel kommen nicht mehr herein". Also zog der Mann von Mauer zu Mauer ein eng geknüpftes Netz. Jetzt konnte tatsächlich kein Vogel mehr hinaus - und hereinfliegen.
War der Mann bisher traurig gewesen, dass Vögel kamen und wieder flogen, so erfüllte ihn nun die Angst, das Netz könnte zerreißen. Deshalb kontrollierte er es Tag für Tag, und wo er auch nur das kleinste Loch fand, nähte er es umso fester zu.
Auch unter den Vögeln hatte sich eine seltsame Unruhe breit gemacht. Ihr Gesang war leiser geworden und ihr ruhiger Flug war einem aufgeregten Flattern gewichen. Viele Vögel, die bisher im Garten gelebt hatten, versuchten, durch das Netz zu entweichen, beschädigten sich aber die Flügel und fielen ermattet zu Boden. Sie fürchteten sich, wenn der Mann auftauchte, und flogen erschreckt in den äußersten Winkel des Gartens.
Sie wagten nicht mehr, den Mann morgens zu wecken, weil sie Angst hatten, er würde sie einfangen. Tatsächlich ging der Mann her und baute Käfige, in die er die schönsten Singvögel einsperrte.
Der ganze Garten war ein einziger großer Käfig geworden, in dem viele kleine Käfige standen. Endgültig war der Gesang der Vögel verstummt. Und auch das beste Vogelfutter vermochte die Vögel nicht zu bewegen, ihre Stimme zu erheben. Totenstille breitete sich aus.
Eines Tages besuchte den Mann eine weise Frau. Ihr klagte der Mann sein Leid und erzählte ihr von seinen Ängsten. Sie hörte ihm lange zu. Dann sagte sie:
"Sieh, die Vögel sind für den Himmel bestimmt. Wisse, sie erheben nur ihre Stimme, wenn sie frei fliegen können. Erkenne, es ist besser, einige Vögel kommen und ziehen zu lassen, als alle in einen Käfig zu sperren. Und lerne, das die Trauer über die kleine Abschiede besser ist, als die Angst, alles zu verlieren."
Der Mann verstand. Er ging hin und öffnete die Käfige, zerriss das Netz und ließ alle Vögel frei. Und von derselben Stunde an füllte sich der Garten wieder mit Leben und Gesang. Die Mauern stürzten mit der Zeit ein und Hecken wuchsen, in denen die Vögel ihre Nester bauten.
Der Mann verlor seine Angst, die Vögel würden entweichen. Und wenn im Frühling die Zugvögel kamen und wieder flogen, dann wusste er, das es nach einer alten Ordnung so sein musste. Er ahnte, das hinter dem Horizont noch ein anderer Garten war und das viele Vögel eine Sehnsucht nach diesem Garten spürten.
Und manchmal - spürte er diese Sehnsucht auch in sich.
Wilhelm Bruners
Das Foto wurde von Karin Heringshausen zur Verfügung gestellt