Schon länger will ich über ein Thema schreiben, was nicht leicht zu fassen und zu umreißen ist und leicht misinterpretiert werden kann. Es betrifft meinen unterschiedlichen Zugang zu meinen beiden Kindern. Also weniger die Ähnlichkeiten/ Unterschiede zu mir, die ich in den Kindern entdecke (worüber ich hier ausführlich geschrieben habe und die da natürlich mit hineinspielen), sondern vielmehr die damit verbundenen Gefühle bei mir und wie sich dies im Alltag bemerkbar macht. Viele sagen ja immer: "Ich liebe meine Kinder gleich." Dazu möchte ich sagen: "Aber diese Liebe fühlt sich bei mir völlig verschieden an." Verschieden leicht oder schwer, verschieden kompliziert oder unkompliziert, verschieden arbeitsintensiv oder fließend.
So, wie es auch zwischen Erwachsenen Beziehungen gibt, die von Grund auf leichtgängiger, symbiotischer und einträchtiger funktionieren und andere, deren Protagonisten sich aneinander reiben, miteinander Konflikte austragen und dadurch miteinander wachsen, existieren auch in der Eltern-Kind-Beziehung Konstellationen, die intuitiver und andere, die konfliktreicher und arbeitsintensiver sind. Es gibt einfach Menschen unter jenen, die man nett findet und gern hat, mit denen man sich intuitiv versteht, mit denen man eine gemeinsame Basis hat oder denen man sich nahe fühlt. Und andere wiederum, die man mag, wo aber irgendwie kein emotionaler Zugang entsteht oder dieser Zugang enormes Engagement erfordert oder ein Zugang da ist, dieser aber großen Schwankungen ausgesetzt ist und auch viel emotionale Arbeit braucht. Ich denke, das kann man genauso auf Eltern-Kind-Beziehungen übertragen.
In diesem Interview über ihre postnatalen Depressionen schreibt Christine von Villa Schaukelpferd:
"Ich kann heute fühlen, was für ein toller Junge mein Sohn ist, auch wenn sich die Mutter-Sohn-Beziehung zu meinem zweiten Sohn anders anfühlt. Es „fließt“ einfach besser zwischen meinem Jüngsten und mir. Vielleicht liegt das aber auch an den unterschiedlichen Charakteren und Temperamenten der Kinder. Trotzdem habe ich inzwischen beide Kinder „gleich lieb“ und wüsste (im Gegensatz zu früher) nicht mehr, wen ich aus dem brennenden Haus retten würde, wenn ich mich für Einen entscheiden müsste."
Der Ausdruck "es fließt einfach besser" beschreibt sehr schön, was ich meine. Vielleicht versteht man ein Kind besser, vielleicht fühlt man sich ihm wesensmäßig näher, vielleicht tritt das Kind einem anders entgegen als das Geschwisterkind. All dies spielt in so ein Gefühl mit hinein. Auf mich und meine Kinder bezogen, fühlt es sich so an, dass es zwischen der Kleinen und mir mehr "fließt" als zwischen dem Großen und mir, obwohl er mir in einigen Grundcharakteristika sehr ähnlich ist. Die Beziehung zu ihm ist ungleich anstrengender, konfliktreicher, arbeitsaufwendiger und oft auch schmerzhafter als die zur Kleinen. Außerdem hatten wir ja massive Anfangsschwierigkeiten mit ihm, so dass also auch noch eine als negativ erinnerte Geschichte in die Beziehung mit hineinspielt. Andererseits muss ich auch feststellen, dass das Leben mit dem Großen mich weitaus mehr über mich gelehrt hat als es mit der Kleinen je möglich gewesen wäre. Durch ihn habe ich mich selbst besser kennengelernt, meine Grenzen, meine Hochsensibilität, meine Problembereiche. Er stellt mich immer wieder auf die Probe und fordert viel, manchmal zu viel, von mir. Die Beziehung zu ihm ist harte Arbeit für mich. Gerade der Widerspruch, dass er mir in einigen Bereichen wie seiner vermutlichen Hochsensibilität und seinem autonomen Wesen so ähnlich, in anderen Aspekten wie seinen kognitiven Fähigkeiten dagegen wiederum komplett gegensätzlich ist, bereitet mir oft Schwierigkeiten und Kopfzerbrechen. Über ihn denke ich sicherlich zehnmal mehr nach als über die Kleine. Wir sprechen viel öfter über ihn als über sie. Wir machen uns viel mehr Gedanken über seine Zukunft als über die der Kleinen. Das fühlt sich manchmal merkwürdig an, ist aber einfach der Tatsache geschuldet, dass er viel mehr mit sich und seinem Leben zu kämpfen hat als die Kleine. Ich will und muss ihn ja auch darin unterstützen, einen gesunden Weg zu finden.
Die Liebe zu solch einem Menschen/ Kind ist nicht einfach, nicht geradlinig, nicht unbeschwert, sondern Schwankungen unterworfen, kräftezehrend und sehr arbeitsintensiv. An Tagen, an denen man als Fußabtreter benutzt wird (von der Kleinen habe ich mich noch nicht einen Tag ihres Lebens als Fußabtreter benutzt gefühlt), ist es schwerer, eine unkritische Liebe zu fühlen. An Tagen, wo er zugänglich, ausgeglichen und anschmiegsam ist, ist dies einfacher. Und ich meine weiß Gott keine simple Rechnung wie "Ist er lieb und kooperativ, habe ich ihn gern", nein nein, aber ich vermisse oft, dass er zumindest emotional anerkennt, wieviel von meiner Seele ich für ihn hergebe. Mein Mitfühlen und Mitleiden ist für ihn noch ausgeprägter als für die Kleine. Ich fühle seine Zerrissenheit, ich fühle seine Verzweiflung, ich fühle sein Aufbegehren und zeige ihm das auch. Ich gebe ihm alles, was ich geben kann, aber es scheint nie genug zu sein. Mitfühlen und Mitleiden ist auch ein großer Bestandteil von Liebe, genauso wie Erkenntnis des anderen und Hilfe beim Finden des eigenen Weges. Das sehe ich als meine Aufgabe an. Ich denke tatsächlich, dass er meine größte Lebensaufgabe ist, die ich angenommen habe, mit der ich aber auch oft hadere. All das macht meine Liebe für ihn aus. Es ist keine simple, intuitiv funktionierende Beziehung, auch wenn man dies aufgrund der Ähnlichkeiten vielleicht erwarten würde. Auch ich selbst muss mich von dieser Erwartungshaltung immer wieder lösen.
Meine Beziehung zur Kleinen ist ganz anders. Für mich ist es eine intuitive Beziehung. Wir hatten einen wunderschönen gemeinsamen Start, sie hat also unbelastet und nicht traumatisch begonnen. Die Kleine hat von Anfang an in Symbiose mit mir gelebt. Sie ist unheimlich anschmiegsam, zeigt ihre Zuneigung und macht es uns leicht, sie zu lieben. Sie ist mir in ihrer Fröhlichkeit, ihrer Unbeschwertheit, ihrem Schelm, ihrem unkomplizierten Wesen eigentlich überhaupt nicht ähnlich. Und dennoch ähnelt sie mir in vielen Aspekten, die erst auf den zweiten Blick zu erkennen sind bzw. erst durch den Erwerb der Sprache zum Vorschein traten. Ich sage immer, ihr Gehirn funktioniert wie meins, sie denkt wie ich, sie erkennt Zusammenhänge, sie ist vorausschauend, sie ist schnell, sie ist unglaublich empathisch und einfühlsam und willensstark, aber umgänglich. Die Beziehung zu ihr ist keine harte Arbeit, kein täglicher Kampf, im Gegenteil: es "fließt" zwischen uns, um die Worte vom Anfang wieder aufzugreifen. Sie zeigt und sagt mir, dass ich eine tolle Mama bin und dass sie mich lieb hat, und ich im Gegenzug ebenfalls. Wir reiben uns nicht aneinander, wir schwingen miteinander. So einfach und wunderschön ist es mit ihr. Ich bin gespannt, ob und wie sich das im Laufe der nächsten Jahre verändern wird. Hätte ich nur sie gehabt, hätte ich wohl niemals die Dinge über mich herausgefunden, die mir jetzt mein eigenes Dasein erleichtern. Es wäre aber deutlich weniger schmerzhaft gewesen.
Deshalb fühlt sich die Liebe zu meinen beiden Kindern durchaus sehr unterschiedlich an. Das heißt nicht, dass die Liebe zu einem Kind stärker ist. Aber ich fühle sie anders. Das eine ist eine klare, gleichbleibende, intuitive, unbeschwerte und auf Gegenseitigkeit beruhende Liebe, die auch deutlich gezeigt wird. Das andere ist eine schwierige, Schwankungen unterworfene und herausfordernde Liebe, die hart erarbeitet werden muss, aber mich unheimlich viel lernen lässt. Ich kann sagen, dass die Liebe und die intuitive Beziehung zur Kleinen mir die Kraft gibt, die ich für die kräftezehrende und herausfordernde Beziehung zum Großen benötige. Insofern hat doch alles seinen Sinn. Und vielleicht kehrt sich alles ja noch einmal um.