Libyen, ein Jahr später: kurzes Gedächtnis

 

von Manlio Dinucci

Ein Jahr nach dem Krieg in Libyen wünscht niemand eine Bilanz zu ziehen. Die Kolonialmächte sprachen von Unterstützung einer demokratischen Revolution gegen einen Tyrannen. In Wirklichkeit haben sie das Land wieder geteilt und die Sanussiya Dynastie in der Kyrenaika an die Macht gebracht. Die libysche Dschamahirija, eine hybride Mischung aus Proudhonscher Anarchie und Autokratie wich einem liberalen Chaos, wo Folter und Mord der Standard wurden, während sich multinationale Unternehmen vollfressen.

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Eine der Auswirkungen der „Waffen massiver Zerstreutheit“ ist, das Gedächtnis junger Ereignisse zu verwischen, sodass man seine Spur verliert. So wurde die Tatsache übersehen, dass vor einem Jahr, am 19. März das Bombardement von Libyen begann, offiziell „zum Schutz der Zivilbevölkerung“.

In sieben Monaten führten die Luftstreitkräfte der Vereinigten Staaten und der NATO 30 000 Missionen, worunter 10.000 Angriffe, einschließlich der Verwendung von mehr als 40 000 Bomben und Raketen. Darüber hinaus wurden in Libyen Sondereinheiten eingeschleust, darunter Tausende Kommandos aus dem Katar, die leicht getarnt werden konnten.

Und man finanzierte und bewaffnete der Tripolis-Regierung feindlich gesinnte Stammesgebiete sowie die islamistischen Gruppen, die man ein paar Monate zuvor noch als Terroristen qualifizierte. Die Operation in ihrer Gesamtheit, sagte US-Botschafter bei der NATO, wurde von Washington geführt: durch das erste AfriCom, später durch die NATO unter U.S. Kommando.

Der Libysche Staat wurde so abgerissen und el-Gaddafi selbst ermordet, indem man das Unternehmen einer „inspirierenden Revolution" unterstellte – wie es der US-Verteidigungs-minister Leon Panetta definierte -, worauf die USA stolz sind, sie unterstützt zu haben, indem sie "eine Allianz ohne Gleichen für Freiheit und gegen Tyrannei" schufen. Man sieht nun die Ergebnisse.

Der einheitliche Staat zerfällt. Die Kyrenaika – wo zwei Drittel des libyschen Öls liegen – hat sich tatsächlich als unabhängig erklärt und an deren Spitze, Ahmed al-Zubair al Senoussi platziert wurde. Eine sinnbildliche Wahl: Er ist der Urenkel von König Idris, von Großbritannien und den Vereinigten Staaten auf den Thron gesetzt, der ihnen in den Jahren 50 und ’ 60, Militärbasen und Ölfelder zugestand.

Die Privilegien wurden gelöscht, als König Idris 1969 abgesetzt wurde. Der Urenkel wird sie sicher wieder herstellen. Auch der Fessan, wo sich wichtige Ressourcen befinden, will unabhängig sein. Es blieben daher Tripolitanien nur die vor der Küste der Hauptstadt liegenden Ölfelder. So werden die großen Ölgesellschaften, denen Gaddafis Libyen nur magere Gewinne einräumte, optimale Bedingungen von den lokalen Chefs erhalten, indem man den Einen gegen den Anderen ausspielt.

Der Führer des Übergangs-Nationalrates Abdel Jalil spricht von "Verschwörung" und droht mit "Einsatz von Gewalt", aber er ist kein Meister der libyschen Unabhängigkeit: er ist der Meinung, die Periode des italienischen Kolonialismus wäre für Libyen „eine Ära der Entwicklung“ gewesen. Der UN-Sicherheitsrat verlängert in der Zwischenzeit für ein weiteres Jahr seine "Mission zur Unterstützung von Libyen", und begrüßt die "positive Entwicklung", die "die Aussichten für eine demokratische, friedliche und prosperierende Zukunft verbessern".

Jedoch kann er nicht vermeiden, seiner "Besorgnis" für "die anhaltenden illegalen Verhaftungen, Folter und außergerichtliche Tötungen" Ausdruck zu verleihen. Es ist das Werk der bewaffneten Milizen, die durch die Politik des "teile und herrsche" des neuen Imperiums ermutigt wurden. Eine bewaffnete Miliz, um andere Brandherde für Kriege in anderen Ländern anzustiften, wie die Tatsache zeigt, dass Tripolis ein Trainingscamp für „syrische Rebellen“ geworden ist.

In Libyen sind die ersten Opfer, die Einwanderer aus dem Sub-saharischen Afrika, die als Verfolgte fliehen mussten. Im Niger allein sind 200 bis 250 000 zurückgekehrt, und verloren dadurch ihre Einkommensquelle, die Millionen von Menschen unterhielten. Viele von ihnen versuchen aus Verzweiflung das Mittelmeer in Richtung Europa zu überqueren. Diejenigen, die ihr Leben dabei lassen, wie die letzten fünf in Lampedusa Gescheiterten, sind auch Opfer des Krieges, der vor einem Jahr begann. Von ihm hat man jetzt schon die Spur verloren.

Manlio Dinucci

Quelle
Il Manifesto (Italien)

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Quelle: http://www.voltairenet.org/Libyen-ein-Jahr-spater-kurzes



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