Lesung von Sasa Stanisic im Literaturhaus Kiel-„Herkunft“

Von Xeniana

„Sasa Stanisic ist Jugo und hat trotzdem noch nie etwas geklaut. Sieht man mal von ein paar Büchern bei der Frankfurter Buchmesse ab.“

Sasa Stansic ist Jugo und zu spät dran. Die deutschen Regionalzüge habens nicht so mit der Pünktlichkeit. Im Taxi hat er „Eye of the tiger“ gehört und durchmisst nun gut gelaunt,  mit eiligen Schritt den alten botanischen Garten. Nicht ohne herumstehende Gäste freundlich zu grüßen.

Es ist der Sechste, ein weder weinerlicher noch gefährlicher Märztag. Vielmehr liegt ein Geruch von Löwenzahn, Regenwürmern und Aufbruch in der Luft. Vorfrühling.

Die Lesung beginnt pünktlich. Jeder Platz ist besetzt. Junges und altes Volk hat sich zusammengefunden. Ein Mix aus älterem Bildungsbürgertum und sogar vollbärtigen Jungvolk mit Bierflasche.

Neben mir ein kleiner Junge höchstens vier Jahre alt. Erwartung liegt in der Luft.

Sasa Stanisic begibt sich in seinem Roman „Herkunft“ auf die Spuren seiner Vergangenheit und dem „Konstrukt Herkunft“. Geboren in einem Krankenhaus, das es nicht mehr gibt.  Aufgewachsen in einem Land, das es nicht mehr gibt. Der Roman erzählt von der glücklichen Kindheit in Visegrad bei Großmutter Kristina. Diese hat 2009 ihr letztes gute Jahr. Sie verliert ihre Erinnerungen an die Demenz, Stanisic liest die Erinnerungssplitter auf, fügt sie wie in einem Kaleidoskop zusammen.  Er unternimmt Reisen in das kleine Dorf Oskorusa, das Dorf seiner Ahnen. „Einwohnerzahl ungerade.“

Er erzählt von Drachen auf dem Vijarac, Großmutter Kristinas goldenen Zahn, Nierenbohnen die die Zukunft voraus sagen, sprechenden Flüssen, sich räuspernden Fabriken und Baumdrachen. Er erzählt von seiner Drina und der Brücke. Er erzählt von vom Nationalismus nach Titos Tod,  der in einem undenkbaren Krieg mündet. Er erzählt von der Flucht.

In Heidelberg beginnt das neue Leben mit Sprachlosigkeit, beengten Wohnraum, Ausländerbehörde, der Clique die sich an der Tankstelle trifft. Er erzählt von bitterer Vokabularerweiterung als 1992 Neonazis  ein Wohnheim von Vietnamesen in Rostock -Lichtenhagen brennen lassen.

Von der DAZ Klasse zum Studium,  er wird die deutsche Sprache beherrschen, gekonnt und virtuos.

Sasa Stanisic wird es letztlich einem Beamten der Ausländerbehörde zu verdanken haben, der nicht Dienst nach Vorschrift macht, bleiben zu können. Er darf arbeiten. Das es auf das Schreiben begrenz bleiben muss, kommt ihm entgegen.

Stanisic liest temperamentvoll mit atemberaubenden Tempo. Das Publikum lacht und trauert mit dem Protagonisten. „Warum hat die Großmutter einen goldenen Zahn“, fragt der kleine Junge neben mir seine Mutter. „Warum mögen Drachen Gold und Glitzer?“

Am Ende wird das Publikum sich auf seine eigene Reise begeben, Drachen jagen oder im Altersheim stickige Luft atmen. Ich hab die Geschichte bereits mit Mann und Sohn ausprobiert. Der Sohn entschied sich fürs Drachen jagen.

Was soll man noch sagen zu diesem virtuosen Roman, über Dinge die endgültig verloren sind und in Erinnerungen und Geschichten erhalten bleiben. Pionierhalstücher, Staffelläufe für den Frieden, Nierenbohnen und Flüssen die ihre Unschuld verloren haben.

Es wird definitiv nicht die letzte Lesung von Sasa Stanisic sein, die ich besucht habe.

Mein tiefer Dank gilt dem Beamten der Ausländerbehörde, der nicht Dienst nach Vorschrift verrichtete.

Einen begnadeten Erzähler hat er uns geschenkt.