Lesung «Der Tod in meinem Leben – Eine Annäherung»

Im Rahmen der «Notwendigen KurzGeschichten», einem Ableger des Wildwuchsfestivals, wurde ich um die Lesung eines Textes gebeten – online und coronakonform, wie es sich zurzeit gehört. Et voilà:

Auch die anderen Lesungen sind sehr zu empfehlen.

Und für jene, die nicht gerne YouTube-Filmchen schauen – ich selbst gehöre auch dazu –, hier der Text noch in schriftlicher Form.

Der Tod in meinem Leben – eine Annäherung

Nicht dass ich keine Angst hätte vor dem Sterben. Zweifellos ist es das einschneidendste Ereignis, das einem im Leben widerfahren kann – und die Folgen sind höchst ungewiss. Trotzdem hatte der Tod für mich nie diesen Schrecken, wie für viele meiner Zeitgenossen. Sie reagieren darauf, indem sie das Thema Sterben und Tod so lange verdrängen, wie das nur möglich ist. Ganz so als könnte man den Tod fernhalten, wenn man nur ganz fest die Augen davor verschliesst. Oder als würde allein die gedankliche und gefühlsmässige Beschäftigung mit dem Tod das Leben beeinträchtigen. Meine Erfahrung zeigt: Das Gegenteil ist der Fall. Das Bewusstsein unserer Sterblichkeit kann das Leben bereichern, ja befeuern. Das Wissen um die Möglichkeit, dass der Tod gleich um die Ecke auf uns wartet – bloss um welche Ecke? –, eröffnet ganz neue Perspektiven auf unser Leben und lässt vormals Grosses klein erscheinen – und umgekehrt. Zweifellos trägt dieses Bewusstsein zu einer Verwesentlichung bei – und zu einer Befreiung.

Stufen der Annäherung

Doch wie kam es dazu, dass ich Sterben und Tod nicht wie viele andere als Schreckgespenst empfinde, sondern vielmehr als Warner und Mahner, als Rufer und Deuter, ja, manchmal als freundlicher grosser Bruder? Meine These: Ich hatte das Glück, dass der Tod immer wieder in mein Leben trat, durchaus auch sein Tribut einforderte, aber nie katastrophale Verwüstungen hinterliess. Ich konnte mich von früh auf an seine Anwesenheit gewöhnen.

Das erste Mal war das mit drei Jahren, als ich mit hohem Fieber, erkrankt an Kinderlähmung, im Spitalbett lag. Der Tod stand am Fussende des Kinderbetts und rang mit Ärzten, Krankenschwestern und wohl auch mit mir um mein Leben. Nachdenklich betrachtete er mich eine Weile, sprach dann ein paar beruhigende Worte – und ging unverrichteter Dinge. Ich bin seither im Rollstuhl, aber lebe. Natürlich erinnere ich mich nicht wirklich an jene Begegnung im Kinderspital. Aber ich vermute, dass ich damals mit dem Tod eine Art Freundschaft schloss, zumindest ein Stillhalteabkommen auf Zeit. Vielleicht weil er so beruhigend auf mich einsprach. Bestimmt aber weil er dann doch ging, ohne sein Werk zu vollenden.

Ein nächstes Mal kam der Tod, als ich vielleicht acht, neun Jahre alt war, und nahm mir meinen Kinderfreund. Der hatte Muskeldystrophie, eine Krankheit, durch die praktisch alle Muskeln immer schwächer wurden – auch die Atemmuskulatur. P. war schon recht schwach und längst im Rollstuhl, als wir Freunde wurden. Einmal durfte ich mit ihm übers Wochenende zu seinen Eltern auf den Mont Soleil, wo sie die Bergstation des Funiculaire bewohnten, für dessen Betrieb verantwortlich waren und zugleich das Postbüro und einen kleinen Laden führten. Trotz der vielen Arbeit lebte die Familie in bescheidenen Verhältnissen. Die Küche war klein und russgeschwärzt. Einfache Holztablare und ein grob gezimmerter Tisch vermittelten ein bäuerliches, fast ärmliches Ambiente, wie ich ihm, der ich in bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen war, so noch nie begegnet war. Etwas Unverblümtes, Echtes strahlte von diesen Menschen aus.

Was mich genau mit P. verband – ausser dass wir im selben Heim für körperbehinderte Kinder lebten –, kann ich nicht mehr sagen. Plötzlich war er einfach fort. Mir wurde erklärt, dass er nicht mehr zurückkomme, weil er gestorben sei. Das verstand ich nicht wirklich. Noch wochenlang wartete ich auf ihn. Er kam nicht zurück. An so etwas wie Trauer kann ich mich nicht erinnern. Eher war es Unglaube, vielleicht sogar Enttäuschung, Entrüstung.

Die Ungebundenheit des vom Körper befreiten Seins

Einige Jahre später traf es eine gute Freundin. Wir waren beide junge Erwachsene. Sie vielleicht etwas älter als ich. M. hatte wie ich Kinderlähmung. Allerdings war ihr ganzer Oberkörper stärker betroffen als meiner. So auch die Atmung. Das machte sie anfällig für Lungenentzündungen. Jedesmal wenn sie eine Erkältung hatte, bestand diese Gefahr – und damit auch Lebensgefahr. Und eine Lungenentzündung war es denn auch, die sie aus dem Leben nahm: aus ihrem und aus meinem.

Wir waren befreundet, aber kein Paar. Sie war Teil eines «bewegten» Kreises junger, stark körperlich Behinderter, die das Heim als grundsätzlich entmündigende Institution betrachteten und nach Wegen suchten, endlich ausbrechen und sich die nötige Unterstützung und Pflege autonom organisieren zu können. Ich war eher Zaungast, der einerseits von der emanzipatorischen Geste der «schwachen» Behinderten fasziniert war. Anderseits kam für mich selbst ihr Projekt nicht in Frage, da ich nicht wie sie auf Pflege angewiesen war und deshalb in eine eigene Wohnung ziehen konnte, wenn dafür die Zeit gekommen war.

Die Erkältung von M. kam unvermittelt, die Lungenentzündung auch und ebenso der Tod. Bloss wenige Tage brauchte es dazu. Ich war nicht dabei, habe von ihrem Tod erst später erfahren. Mein erster Gedanke: «Da hast du uns allen ganz schön ein Schnippchen geschlagen: Statt dich mit Durchhaltewille den entmündigenden Heimen zu entziehen, gingst du gleich aufs Ganze und hast dich deinem pflegebedürftigen Körper entzogen.» Ich will nicht verschweigen, dass ich mit diesem Gedanken auch eine gewisse Sehnsucht verband. Immer wieder träumte ich bereits in diesen jungen Jahren von der Ungebundenheit des vom Körper befreiten Seins – ein Gedanke, der sich womöglich jedem Menschen mit einer Körperbehinderung früher oder später aufdrängt, wenn für ihn überhaupt ein Sein jenseits des körperlichen Daseins in Betracht kommt. Das hiess nun nicht, dass ich einen Suizid ernsthaft erwog, etwa um ihr zu folgen oder gleichsam als ultimativer Akt der Befreiung. Aber es verband sich mit der natürlichen Trauer – schliesslich hatte ich soeben eine Freundin verloren, konnte nie mehr mit ihr diskutieren oder blödeln und wusste letztlich ja auch nicht, was nun mit ihr war –, es verband sich mit der Trauer so etwas wie eine augenzwinkernde Komplizenschaft. Das ging so weit, dass ich zuweilen empfand, sie schaute durch meine Augen, hörte mit meinen Ohren, röche durch meine Nase.

Beim nächsten Mal kam der Tod wieder zu mir persönlich. Vielmehr: Ich meinte es nur. Für mich war damals klar, dass ich sterben würde. Das kam so: Ich hatte schon länger eine zeitweise schmerzhafte Krankheit mit entzündlichen, eitrigen Vorgängen unter der Haut, hauptsächlich am Gesäss, in deren Verlauf sich parallel zur Hautoberfläche entzündete Gänge bildeten, ein regelrechter Fuchsbau, der sich periodisch mit Eiter füllte und dem nur schwer beizukommen war, zumindest mit den Mitteln der Schulmedizin. Einer dieser Gänge «verirrte» sich unvermittelt in meinen Hodensack, was mich in grosse Angst versetzte. Sofort ging ich in die Notfallstation der Uniklinik. Es war ein Sonntag. Der Urologe musste von zuhause gerufen werden. Entsprechend missmutig war er, als er sich die Sache anschaute. «Das müssen wir übernächste Woche operieren», sagte er und unterschrieb gleichzeitig ein Rezept für eine gehörige Portion Antibiotika. «Vorher gibt es keinen Platz. Und dann sehen wir, was genau zu tun sein wird. Vielleicht müssen wir ausräumen.» Ja, so technisch und kaltschnäuzig sagte er das. «Und vielleicht auch nicht.» Für mich war dieses «Ausräumen» der Hoden identisch mit Sterben. Das war das Ende.

Was sich danach ereignete, kam einem Wunder gleich: Ich konnte mich damit, mit dem Sterben, einverstanden erklären, und zwar im Kopf ebenso wie im Herzen. Für mich war klar, dass ich in gut einer Woche sterben würde. Und es war gut so und richtig. Es gab nichts daran auszusetzen. So begann ich, allerdings klammheimlich, von der Welt Abschied zu nehmen. Jeder Tag war so etwas wie ein letzter Tag, und entsprechend intensiv erlebte ich ihn. Sogar die Farben wurden farbiger, die Düfte intensiver. Und erst die Begegnungen: Ich empfand sie als zutiefst berührend, auch wenn sie noch so flüchtig waren. Diese intensiven Tage des Abschieds, dieses Einverstandensein auch mit dem nahen Tod, haben meinem Leben eine Wende gegeben. Der Tod hat für mich damals seine Schwere verloren, seinen Schrecken. Gleichzeitig verlor das Leben seine Selbstverständlichkeit. Von nun an wusste ich um seine Hinfälligkeit. Und das Erlebnis wirkt bis heute fort. Der Tod kam dann doch nicht, die eitrige Fistel in meinem Hodensack liess sich chirurgisch problemlos sanieren. Mir war mein Leben neu geschenkt.

Der brutale Tod

Etwa zur selben Zeit muss es gewesen sein, als mein Vater starb. Um nichts in der Welt wollte er sterben. Denn er stand kurz nach seiner Pensionierung und hatte noch so viele Erwartungen an das Leben. Ein pflichtbewusster und fleissiger Nachkriegsfamilienvater, der viele seiner eigenen Wünsche hintanstellte, auf später verschob – auf nach der Pensionierung eben. Und nun war er an Krebs erkrankt und kämpfte dagegen wie ein wildes Tier – und die Ärzte mit ihm. Alle Mittel waren recht, um dem Leben noch einige Jahre abzugewinnen. Chemo-, Strahlentherapie und was weiss ich wurden ins Feld geführt. Es war ein Stellungskrieg der Medizin gegen den Krebs. Und der Körper meines Vaters war das Schlachtfeld. Unter unglaublichen Schmerzen und in grosser Verzweiflung starb er dann doch, ohne noch ein paar gute Jahre hinzugewonnen zu haben. Nie habe ich den Tod brutaler erlebt. Und das Erlebnis stellte meine Freundschaft mit ihm auf eine harte Probe. Allerdings sah ich auch, dass der Tod auf höchst individuelle Art in das Leben eines Menschen trat: gnadenlos, wenn es sein musste, oder sanfter, je nach Gegenwehr.

Inzwischen nimmt mir der Tod immer mehr meiner Freunde und Bekannten. Er kreist mich ein, kommt mir immer näher und wird mir auch vertrauter. Nicht dass ich keine Angst hätte vor dem Sterben. Es ist eine Zumutung. Eben bin ich auf dieser fremden Erde so richtig heimisch geworden. Und jetzt soll ich verlassen, was mich so liebevoll umfängt? All meine Freunde, all meine Gewohnheiten, all meine Leidenschaft? Der Abschied muss ein bitteres Geschäft sein, das Sterben eine grosse Prüfung. Aber das Totsein stelle ich mir herrlich vor. Endlich Ruhe! Endlich Frieden! Endlich verdichtet aufs Wesentliche! Endlich ganz und gar frei! Oder täusche ich mich?


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