Nina Sankovitch, Ehefrau und Mutter von vier Kindern, verliert ihre geliebte Schwester durch eine schwere Krankheit. Zurück bleibt eine ratlose, sich vom Leben betrogen fühlende Mittvierzigerin. Um die Trauer besser zu bewältigen, startet Sankovitch eine ungewöhnliche Selbsttherapie: Ein Jahr lang will sie jeden Tag ein Buch lesen. Heraus kam dabei — was sonst — ein Roman: Tolstoi und der lila Sessel.
Folge deinem Lese-Herzen
Nach dem Tod ihrer Schwester stürzte Sankovitch sich drei lange Jahre in Aktionismus, bis sie merkte, dass sie dem Schmerz nicht weglaufen kann. Einen ähnlichen Versuch, seelischen Wunden zu entkommen, finden wir übrigens schön erzählt in Matthew Quicks Silver Linings.
Also geht Sankovitch in die entgegengesetzte Richtung: Entschleunigung durch Lesen. 365 Bücher will sie schaffen, unter zwei Bedingungen: pro Autor nur ein Werk und kein Buch darf eine Dicke von 2,5 Zentimetern überschreiten. Verständlich, da allein die Lektüre von Tolstois Anna Karenina
Also folgt die Autorin ihrer Inspiration. Jeden Tag knöpft sie sich ein Werk vor und springt kreuz und quer durch die Literaturlandschaft. Von Jean-Jacques Rousseau über Elizabeth Strout hin zu James Salter über John Updike zu Bernhard Schlink — Sankovitch liest nach ihrer Maxime:
“Jedes Buch kann dein Leben verändern.”
Eine Reise zur Resilienz
Viele Leser schätzen Bücher als Flucht vor dem Alltag. Doch der Ansatz der Autorin ist ein anderer und gerade deshalb so interessant. Sankovitch möchte durch das Lesen nicht aus dem Leben fliehen, sondern lernen, besser im Leben zu sein, mit Situationen souveräner umzugehen. Die Autorin sucht Trost, Stärke und Erleuchtung in Büchern. Dabei wird sie zwar spirituell, aber nie esoterisch.
Sankovitch lässt uns Leser an ihrem persönlichen Reifeprozess teilhaben. Schritt für Schritt, immer scheibchenweise, lernt sie wichtige Lektionen auf ihrem Weg durch Schmerz und Angst — und wird dabei von alltäglichen Verpflichtungen eingeholt. Und stets, so scheint es, landet sie zur richtigen Zeit bei den richtigen Büchern.
Die wohl bedeutsamste Lektion für die Autorin ist, dass wir Menschen zwar nicht alle Geschehnisse beeinflussen können, wohl aber unsere Einstellung zu ihnen. Mit dieser Erkenntnis kann Sankovitch den Tod ihrer Schwester besser verarbeiten.
Tiefgehende Wandlung
Im Vergleich zu Eat, Pray, Love ist Tolstoi und der lila Sessel weniger prätentiös. Sankovitch bleibt bis zum Ende ihres Experiments bodenständig, authentisch und humorvoll. In ihrem Universum dreht sich nicht alles um ihre Person und sie verfällt auch keinem Eso-Lifestyle, der als Rezept zu persönlichem Wachstum vorausgesetzt wird.
Die Autorin zeigt, dass die größten Weisheiten nicht erst in einem indischen Ashram zu finden sind, sondern bereits zwischen Buchdeckeln. Lesen ist ein erschwinglicher, heilsamer und erfüllender Prozess, in dem wir uns aktiv mit geschriebener Weisheit auseinandersetzen. Lesen bildet und hat zahlreiche weitere Vorteile.
Bei Sankovitch ist das Rezept zu Heilung und Wachstum simpel und damit für jeden Menschen zu erreichen: Lesen, lesen, lesen.
Fazit
365 Abenteuer erlebt Nina Sankovitch und dafür muss sie nicht einmal das Haus verlassen. Tolstoi und der lila Sessel ist eine Hommage an alle wunderbaren Autoren und an alle wunderbaren Leser — denn ohne Leser ist ein Buch nur ein Stück Papier, mehr nicht. Doch wer es wagt, es aufzuklappen, den beeinflusst es im besten Falle außerordentlich, wie Wilhelm Busch und Franz Kafka bereits festgestellt haben.
SANKOVITCH, NINA: Tolstoi und der lila Sessel. Roman. Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012, 288 S., 16,99 €
Autoreninfo: Nina Sankovitch probierte das ungewöhnliche Experiment, jeden Tag ein Buch zu lesen. Die Lektüre verschiedenster Werke hat ihr die therapeutische Kraft gegeben, den Tod ihrer Schwester besser zu verarbeiten. Über ihre Erfahrungen bloggt sie und hält Vorträge. Sankovitch lebt mit ihrer Familie im US-Bundesstaat Connecticut.