Chris Cleave veröffentlicht ausdrucksstarke Romane. Mit Little Bee hat der Autor eine ebenso bitterböse wie kluge Kritik an der Asylpolitik Großbritanniens geschrieben. Herausragend bei diesem Autor ist ein eloquenter Stil, der elegant ins Deutsche übersetzt wurde. Und mit seinem Debut Lieber Osama
Brief nach Tora-Bora
Ein schwerer Anschlag erschüttert die Londoner Innenstadt: Mehrere Bomben explodieren während einer Sportveranstaltung und reißen etliche Menschen in den Tod. Dabei verliert eine junge Frau ihren Mann, der bei einem Bombenräumkommando arbeitete, sowie ihren Sohn.
Überfordert und allein gelassen mit dem Schock, driftet sie in eine neurotische Nymphomanie ab — und schreibt einen Brief an den verantwortlichen Terroristen-Anführer Osama bin Laden.
Raffinierter Humor
Chris Cleave gelingt die schmale Gratwanderung, einen tieftraurigen Plot mit bissigem Humor zu verknüpfen. Anders als Er ist wieder da rutscht die Erzählung dabei nicht in Klamauk ab. Stattdessen erzählt Cleave sensibel und derb zugleich von der anderen Seite und verleiht den Opfern von Terroranschlägen eine Stimme. Und diese Stimme verfällt nicht in Anklagen, wie es bei einer Witwe durchaus nachvollziehbar wäre.
Nein, diese Frau erzählt Osama von ihrer Liebe, von ihrer Familie und der Sinnlosigkeit ihrer Ermordung. Wut und Hass sind der Nährboden für Terroristen, denn sie geben ihnen das Gefühl, einen Sieg errungen zu haben. Wut und Hass sind Emotionen, mit denen Attentäter bestens vertraut sind, denn diese zerstörerischen Impulse werden über Jahre wie fleischfressende Pflanzen kultiviert.
Rache des Westens
Seit 9/11 war die Jagd auf Osama bin Laden eröffnet und gipfelte in der Operation Neptune’s Spear. In der Nacht zum 02. Mai 2011 drangen vier US-amerikanische Hubschrauber unerlaubt in den pakistanischen Luftraum ein. Ihr Ziel: der geheime Unterschlupf bin Ladens und seiner Familie in Abottabad. Die USA haben damals einen internationalen Eklat riskiert, um den personifizierten Terror anzugreifen.
Obwohl die Tötung bin Ladens fünf Jahre nach Veröffentlichung von Lieber Osama geschah, erkannte Cleave schon damals den ungeheuren Symbolcharakter des Terrorismus. Hier wird deutlich, wie gekonnt der Autor seine Erfahrungen als Psychologe mit seinem Schreibtalent verknüpft. Durch den Brief tritt die Witwe in Kontakt mit einem Mann, der verantwortlich für den Tod ihrer Liebsten ist. Dieser Brief ist die einzige Möglichkeit, mit ihm zu kommunizieren und zwar unabhängig davon, ob Osama bin Laden ihn überhaupt lesen wird.
Aus der Poesie-Therapie ist bekannt, dass das Aufschreiben allein schon eine heilsame Wirkung hat. Viele Psychologen empfehlen, ein Gefühlstagebuch zu schreiben oder Briefe an Personen zu verfassen, mit denen der Klient ein angespanntes Verhältnis hat.
Unverdautes Trauma
Cleaves Debutroman sorgte kurz nach seinem Erscheinen aus einem weiteren Grund für Aufsehen: Während für den Roman die Werbetrommel gerührt wurde, verübten drei Terroristen am 07. Juli 2006 Anschläge in der Londoner U-Bahn. Die Werbeplakate mit der Aufschrift “What if…?” wurden damals entfernt. Doch Cleaves Fiktion geriet plötzlich erschreckend nah an die Realität.
Seit Jahrzehnten ist die Furcht vor Terrorismus ein ständiges Hintergrundrauschen in unserer Gesellschaft. Es ist die stärkste Waffe der Terroristen: Die diffuse Angst, dass es jeden treffen könnte. Die Witwe in Cleaves Roman widersetzt sich dieser Angst, indem sie sich aus der Opferhaltung befreit. Sie wirkt aktiv und drückt ihre Gefühle aus, lebt weiter. Und tut so etwas, worauf der Terror keine Antwort hat.
Fazit
Lieber Osama
CLEAVE, CHRIS: Lieber Osama. Roman. Rowohlth Taschenbuch Verlag, Reinbeck 2012, 304 S., 8,99 €