Lesetipp: Haben oder Sein (Erich Fromm)

Erstellt am 25. Oktober 2015 von Maxmustermann

Erich Fromms Analyse Haben oder Sein ist aktueller denn je. 1976 veröffentlicht, kann das Buch ohne Weiteres in die Gegenwart übertragen werden.

Mehr Technik, mehr Flexibilität, mehr Besitz

Fromms Buch trägt den Untertitel Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Einen besseren Titel hätte der Autor nicht wählen können. Der Sozialpsychologe Fromm beschäftigte sich intensiv mit den zwischenmenschlichen Phänomenen und ging dabei in die psychologische Tiefe.

Er sah das große Ganze, die Verknüpfungen einzelner Menschen zu Sozialverbänden. Fromms Interesse galt der Gemeinschaft, wohingegen die meisten Ratgeber heutzutage sich auf Individualisierung und den Ich-Weg konzentrieren.

Roboten gehen

In einem wesentlichen Punkt unterscheidet sich Fromms Realität von unserer modernen Welt: Er spricht von Maschinen und kritisiert, dass die Menschen sich zu Untertanen des technischen Fortschritts gemacht haben. Wir brauchen lediglich den Maschinen-Begriff durch den des Computers zu ersetzen und schon ist seine Analyse erschreckend nah an unserer Zeit.

Wir sind vermeintlich hoch vernetzt, doch nutzen Plattformen wie z. B. Facebook zur positiven Selbstdarstellung. Dabei lassen wir Unangenehmes und unserer Meinung nach Unästhetisches weg. Freunde, die meisten davon wohl eher Bekannte, sehen nur einen Ausschnitt unserer Realität.

Im Rahmen einer Studie hat die Technische Universität Darmstadt in Zusammenarbeit mit der Humboldt Universität zu Berlin herausgefunden, dass auf Facebook regelmäßig “Neidspiralen” in Gang gesetzt werden.

Wenn eine Person sich mit einer anderen vergleicht und dabei vom Empfinden her schlechter abschneidet, stellt der Betroffene sich umso besser dar und erzeugt umgekehrt den Eindruck, er sei erfolgreicher / beliebter / reiselustiger. Eine Spirale des Neids kann die Folge sein.

Zwitschern, posten, sich verlieren

Ähnlich wie Heidegger in seinen Aufzeichnungen Was heißt Denken?warnt Fromm vor der Technisierung der Menschheit. Während Heidegger (wohlgemerkt bereits im Jahre 1951) von der Verkrustung des Alltags durch Technik sprach, sieht Fromm uns längst als Gefangene der Technik.

Es ist ein wiederkehrendes Motiv: Der Kampf Mensch gegen Maschine, den der Mensch zu verlieren scheint.  Visuell ebenso brillant wie beklemmend wird dies im Film The Matrix dargestellt.

Das Erschreckende ist, dass wir uns freiwillig unterwerfen. Wir gehen auf in dieser Selbstvermarktung, die ein integraler Bestandteil unserer globalisierten Welt geworden ist. Fromm hat die psychosozialen Folgen dieser Entwicklung erkannt und scharf kritisiert.

Haben statt Wissen, Wissen statt Lernen

“Der Schüler: ‘Er gleicht einem beschlagenen Museumsführer. Was er nicht lernt, ist das, was über diesen Wissensbesitz hinausgeht. Er lernt nicht, die Philosophen in Frage zu stellen, mit ihnen zu reden, gewahr zu werden, daß sie sich selbst widersprechen, daß sie bestimmte Probleme ausklammern und manche Themen meiden.’” (S.44)

Dieses Problem, das Fromm im Abschnitt Haben thematisiert, spricht auch Steffi Burkhart im Interview an. Schüler lernen nicht mehr zu denken, sie lernen, um zu wissen. Wissen ist eine abrufbereite Ressource für Prüfungen, die danach im dunklen Raum des Unbedeutenden verschwindet.

Wenn das Denken daher einen so geringen Stellenwert in der Gesellschaft hat, dann ist nachvollziehbar, warum Haben wichtiger ist als Sein — denn Sein ist das Bestreben, zu existieren, zu wachsen und zu lernen, in Interaktion mit Menschen zu stehen.

Für Fromm kennzeichnet sich eine durch das Sein geprägte Lebenshaltung wie folgt:

  • Freude am Geben
  • Großzügigkeit
  • Hilfsbereitschaft
  • Offenheit
  • Solidarität
  • Aufmerksamkeit
  • Güte

Dem gegenüber steht das Haben:

  • Geiz
  • Status-Denken
  • Eitelkeit
  • Gier (nach Geld, Macht, Einfluss)
  • Oberflächlichkeit
  • Drang, zu horten

Diese Aspekte lassen sich sowohl in religiösen, als auch in ideologischen, sowie in philosophischen Kontexten wiederfinden. Nicht vergessen werden darf, dass Fromm seine Schrift zu Hochzeiten des Kalten Krieges verfasste. Haben oder Sein ist ein Rückgriff auf den Humanismus, verpackt in eine alltagstaugliche Sprache.

Fazit

Mit Haben oder Sein hat Erich Fromm ein erhellendes Buch mit Herz geschrieben. Jeder, der Gorden Gekkos Sicht zustimmt, sollte sich dringend Erich Fromms Buch holen. Damit er nicht mehr Sklave der Technik und der Gier bleibt. Denn Sein oder Nichtsein bleibt auch heute noch die Frage.

FROMM, ERICH: Haben oder Sein: Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2005, 272 S., 7,90 €


Autoreninfo: 
Der in Frankfurt am Main im Jahre 1900 geborene Erich Fromm plante ursprünglich eine Laufbahn als Rabbiner, wandte sich dann jedoch den Bereichen Psychoanalyse, Sozialpsychologie und Philosophie zu.

Auch heute noch gelten seine bekanntesten Werke Haben oder Sein und Die Kunst des Liebens als herausragende Analysen, die sich teilweise auf das aktuelle Zeitgeschehen übertragen lassen. Die Erich-Fromm-Gesellschaft widmet sich unter anderem dem Erhalt und der Weiterentwicklung von Fromms Schaffen.