Eine Schülerin erwies der deutschen Kultur einen Bärendienst. Dabei ist die Deutsche Lyrik weltberühmt. Und im vorgestellten Sammelband finden wir all die großen Dichter und Denker, welche die deutsche Sprache meisterlich beherrschten und mit Worten hantierten, als wären sie magische Ingredienzien.
Damals und heute
Wir alle kennen die quälenden Gedichtanalysen, mit denen wir uns in der Schulzeit herumgeschlagen haben. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich zwischen Jambus und Trochäus unterscheiden musste, wie ich vorn an der Tafel stehend den Unterschied zwischen erweitertem und reinem Reim herunterbeten sollte.
Doch leider haben nur wenige Lehrer das Talent, die Magie eines Gedichtes in einer Analyse zu erhalten. Stattdessen wird sich Vers um Vers durch eine rätselhafte Sprache gequält. Doch es liegt an uns Lesern und Autoren, die Magie der Gedichte wieder zu erringen.
Gebündelter Zauber
Gedichte haben in unserer aktuellen, vom Leichtverdaulichen und Technischen übersättigten Zeit, einen zum Heulen schlechten Ruf. Sie seien schwer verständlich, altbacken und langweilig. An diesem schlechten Image hat das Schulsystem mit seinen hölzernen Analysen sicherlich einen großen Anteil.
Dabei verhält es sich genau umgekehrt: Lyrik ist der aufregende Zugang in die Tiefen unserer Welt. Oder wie es der Dichter Rainer Maria Rilke formulierte:
„Edle Lyrik ist das beste Mittel gegen die nüchterne Unrast jeder Zeit.“
Gute Lyrik ist das Antidot zur Abstumpfung. Gedichte sind das Gegenmittel zu Verrohung und einem Scheuklappendenken, sie sind die bunten Kleckse in einer zum Schwarz/Weiß-Denken neigenden Welt.
Hölderlin, Schiller, Eichendorff, Morgenstern, Benn und all die anderen großen Dichter sind nicht tot – sie leben in ihrer poetischen Schöpfung, die uns jeden Tag begleiten könnte und das nicht nur als lästiges Klausurthema durch die Sekundarstufen. In einem Interview mit dem Deutschlandradio sagte der Lyriker Jan Wagner zur Krise der Lyrik:
„Ich glaube, dass die Schule den Menschen die Gedichte vermiest hat. Es ist ein Grundproblem, dass die Leute denken, ein Gedicht ist etwas, das man interpretieren muss, dem man etwas abpressen muss.“
Müssen Gedichte Sinn ergeben?
Im Umgang mit Gedichten besteht meiner Meinung nach ein großer Irrtum. Gedichte werden oft mit Bedeutung überladen. Ein Gedicht muss im Sinne der Interpretation eine tiefe, allumfassende, neue Botschaft enthalten.
Und wenn ich ein Gedicht lese und diese Botschaft nicht entschlüssle, sei es, weil die Sprache schwer zugänglich ist oder der Autor verschraubte Vergleiche oder Metaphern verwendet hat, dann bin ich nach dieser Lehrmeinung zu dumm dafür. Ist es in diesem Sinne verwunderlich, dass Jugendliche und Erwachsene, die diese Erfahrungen gemacht haben, wenig für Gedichte zu begeistern sind? Wenn Lyrik überhaupt eine Aufgabe hat, dann die, zu erhellen und nicht zu belehren.
Der Lyriker hat den Ruf des Zeigefinger-erhobenen Besserwissers, dabei ist jene Lyrik ein Schatz, gleichermaßen Inspiration für Herz und Verstand.
Ein Gedicht ist manchmal nur ein reiner Egotrip.
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Gelegentlich entsteht nur ein aufgeblähtes kryptisches Etwas ohne Zugang, das mit gespielter Verschlossenheit den Geist des Lesers fordern möchte. Doch ist dies nicht die Art von Gedichten, die wir im Sammelband Deutsche Lyrik vorfinden.
Wo ist die Lyrik unserer Zeit?
Heutzutage wird die Lyrik gern für tot erklärt – sie verkaufe sich schlecht, niemand würde sich mehr für Reime und Gedichte interessieren. Doch die Lyrik hat sich lediglich in andere Medien verlagert. Wir finden sie heute nicht mehr in millionenfacher Auflage, sondern in der Musik, etwa im Rap, Rock und Pop.
Auch in klassischer Form ist die Lyrik längst nicht ausgestorben. Sie muss lediglich immer wieder aufs Neue belebt werden – und das tun wir, indem wir sie mit offenen Augen lesen und zwanglos auf uns wirken lassen.
BRODE, HANSPETER (Hrsg.): Deutsche Lyrik: Eine Anthologie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1990, 432 S., 10,00 €