Leseprobe CASSIOPEIA – Band 1

KAPITEL 2

Atlantis

 

Las Palmas de Gran Canaria, 15. Dezember, 12.00 Uhr mittags Ortszeit:

Temperaturen von 30 Grad im Schatten sind durch den stetig leicht wehenden Wind von der Küste her angenehm zu ertragen.

Wir waren bereits das Gepäck abholen und setzten uns in ein Café am Flughafen, bis die Maschine der beiden Amerikaner um circa 14 Uhr landen sollte. Das Teleskop hatten sowohl Douglas als auch Johannes teuer versichert per FedEx und an das gebuchte Hotel im Süden der Insel geschickt. Mein Opa breitete alte Aufzeichnungen auf dem gesamten Restauranttisch aus, die beim letzten Besuch der Insel mit Zachery entstanden waren. Wie schon in München beteuerte er immer wieder, dass sich der Sagen umworbene Eingang zu der versunkenen Stadt entweder etwas weiter westlich der Kanaren oder zwischen Teneriffa und Gran Canaria befinden müsse. Immer wieder hätten die beiden damals in diversen Geschäften alte Gegenstände gefunden, die als einheimisch angeboten wurden, aber ganz und gar zu nicht den anderen typischen passten.

Ein klappriges Taxi nach dem anderen hielt vor dem Ankunftsbereich an und bereitete sich auf den nächsten Ansturm von Touristen vor. Die 13 Uhr Maschine aus Moskau wurde erwartet. Der Benzingeruch, der auf die Terrasse des Cafés drang, mischte sich mit dem des frisch aufgebrühten Kaffees. Es war der Duft des Südens unter den Palmen, die sogar den Flughafen umringten, eine mächtiger als die andere. Lange Zeit durfte ich so ein Flair nicht mehr genießen. Dazu kam, dass die Spannung jede Minute stieg. Würden wir uns auf Anhieb gut verstehen mit Douglas und seiner Freundin? Bei den Telefonaten in den Wochen zuvor hatte ich jedenfalls nicht die geringsten Bedenken.

Kurz nach 14 Uhr hatte das Warten ein Ende: Am Arrival vor der Glastüre standen nicht viele Leute außer uns. Trotzdem hielten wir ein Schild mit der Aufschrift „Projekt 8“ vor uns hin, damit sie uns gleich erkennen und nicht verfehlen würden. Die Beschriftung in dieser Art war der Wunsch von Johannes, der mittlerweile richtig euphorisch zu sein schien. Er sah mich immer wieder an und die Schweißperlen auf seiner Stirn waren nicht alleine durch das Wetter entstanden. In der Halle war es sogar eher kühl durch die Klimaanlage. Wenige Minuten kamen die beiden etwas geschafft von der langen Reise aus dem Raum mit dem Gepäckgürtel. Sichtlich erleichtert verriet uns Douglas gleich, dass deren Gepäck komplett sei.

Nach einer holprigen Fahrt in einem Mercedes, dessen ehemals weiße Farbe von Roststellen übersäht war, bog der etwas übergewichtige Canario mit seinem Taxi ein letztes Mal ab und kam am Hafenbecken des Fischerdorfes Mogán zum Stehen. Douglas drückte ihm 35 Euro in die Hand, er wollte diese Währung gleich einsetzen. Hatte er jene doch schon am Exchange Büro im Terminal als farbenfroher betitelt als die grünen Dollarnoten.

Johannes schien Mogán sehr gut zu kennen. Er stand bereits winkend mit seinen Koffern auf der anderen Straßenseite und ein paar Gassen mit speckigem Kopfsteinpflaster bepflastert weiter drückte er auf die unterste Klingel eines scheinbar ziemlich unbewohnten Appartementhauses. Schnell hatte er mit einer jungen, ein wenig schüchtern wirkenden Frau alles geregelt und wir bezogen im obersten Stockwerk zwei Zimmer. Zwischen deren Eingangstüren führte eine verwitterte Holztreppe zur Dachterrasse, auf der einige bunte Wäscheleinen ohne Wäsche aufgespannt waren. Ich begab mich auf Wunsch des US-Paares in deren Zimmer und Candace stellte drei Flaschen Bier auf den Tisch. Augenscheinlich spanische Braukunst aus einem Duty – Free Shop in Madrid.

Meinen Opa Johannes hörte man, eifrig wie ein junger Wissenschaftler nach dem Studium, die beiden Teleskope auf das Dach hinauf schleifen. Die Geräte wurden von einem VW Bus aus unserem zum Schein gebuchten Hotel angeliefert. Der Fahrer des Kleinbusses verschwand gleich nach dem Abladen, kein anderes Auto der Welt hat ein vergleichbares Motorengeräusch. Zwei Tage mussten noch verstreichen bis zur Wintersonnwende, dem Tag der Tage. Der laue Wind aus der Sahara in Verbindung mit der Dämmerung bereitete mir am Abend ein wohliges Gefühl. Allein die Palmen an der Hafenpromenade vor den Jachten waren ein Foto wert.

Unser Visionär hatte die beiden Teleskope bereits in Position gebracht. Parallel in einem Abstand von zehn Zentimetern waren sie in den bald einkehrenden Nachthimmel gerichtet. Insgeheim bat ich darum, dass die Version der Ausrichtung keine 50 Anläufe brauchte, während Douglas lächelnd eine Zigarre in der Ecke der Dachterrasse paffte. Sein Mädchen kochte indessen ein Kännchen Kaffee nach dem anderen und eignete sich bei der schüchternen Empfangsfrau kanarische Gebäckrezepte an. Die kleinen, verkalkten, dunkelblau verzierten Kacheln in fast allen Teilen des Hauses hatte es ihr angetan. Auf diese Art von Ästhetik legten Douglas und ich weniger wert.

Bei meinem Großvater war mittlerweile Besessenheit eingekehrt. Das konnte man daran erkennen, dass es durch das Ausbreiten seines Schlafsacks direkt unter den Teleskopen ein deutliches Anzeichen dafür gab. Er würde hier übernachten. Selbst die Tatsache, dass Douglas und ich bereits ein wenig angetrunken waren, schien er nicht im Geringsten wahrzunehmen. Nur durch den Kaffeegeruch aus der Küche hörte man ihn ab und an Sätze murmeln wie: „Sie hat wieder einen aufgebrüht. Aber es ist noch nicht dunkel genug, die Planeten schön deutlich zu sehen.“

Zu diesem Zeitpunkt saßen der Südstaatler und ich bereits beim Pokern in einem Abendcafé in einer Nebengasse. Auch in uns stieg die Anspannung und Erwartung vor dem morgigen Abend der Wintersonnwende.

21. Dezember, 4.30 Uhr morgens: Ich spielte nur noch, als würde ich schlafen. Ebenso musste Candace feststellen, dass ihr Footballspieler seit 3 Uhr in der Früh jede halbe Stunde in eine Chipstüte am Boden neben dem Bett griff. Alle Beteiligten hofften, dass der Tag möglichst schnell vorübergeht.

Der Wind brachte am Abend dann Gitarrenklänge aus den Tavernen mit auf unser Dach. Der strahlend blaue Himmel über Gran Canaria verdunkelte sich allmählich. Während ich mit angespannter Miene die Objektive polierte, standen Candace, Douglas und mein Opa wie angemeißelt an der Brüstung. Der Abendstern war schon zu sehen.

„Die Ausrichtung der Teleskope stimmt.“, flüsterte Johannes den beiden zu.

„Warum habt ihr dann damals nichts gesehen?“, entgegnete Candace.

„Weil wir zu dumm waren. Der Code ist sicher verschlüsselt. Ein Rätsel. Wir schaffen das heute Abend!“

Der alte Mann räusperte sich und sagte zu mir, ich solle als Erster hindurchschauen, was ich dann auch tat. Man konnte nun mit freiem Auge das Sternenbild des großen Wagens erkennen. Wunderschön vergrößert sah ich die Planeten. Ich begann unverhofft zu schwitzen.

„Nach was soll ich jetzt Ausschau halten, Opa? Ich weiß nicht…was ich eigentlich sehen will.“

Douglas stellte sich an das andere Fernrohr. Er blickte zu mir herüber. Sein Mädchen nippte an ihrem Kaffee und mutmaßte:

„Es wird nicht umsonst zwei von den Dingern geben. Sie funktionieren gewiss nur in Verbindung miteinander.“

Diese Erkenntnis hatte Johannes wohl schon vor langer Zeit gehabt, konnte sie nur nicht umsetzen. Leicht gereizt merkte er an, dass er einfach nicht weiß, was zu tun sei. Gott sei Dank ließ er die Begründung mit seinem Alter weg, weil er wusste, dass er damit seinen Enkelsohn ärgert. Douglas beobachtete weiterhin intensiv das Geschehen im Universum. Wir drei anderen saßen in der Zwischenzeit auf Klappstühlen, als uns plötzlich ein Kreischen von Douglas aus dem Grübeln riss.

„Da! Das ist verkehrt! Das ist verkehrt herum! Das gibt es doch nicht! Es fliegt in die andere Richtung!“

Als Candace und ich aufschreckten, stand mein Großvater schon aufgeregt neben Douglas.

„Was ist verkehrt, was fliegt wo hin?“

„Das Flugzeug da oben! Siehst du dessen rote Lichter blinken? Es fliegt nach Osten! Ich fass es nicht, aber durch mein Teleskop fliegt es in die andere Richtung! Und überhaupt, sieh mal da durch! Es ist alles spiegelverkehrt!“

Johannes bekam Herzrasen. Ich schwenkte das andere Teleskop ruckartig zu mir und sah hindurch:

„Hier nicht! Hier stimmt es!“

Douglas nahm seine Freundin an beiden Händen und rief:

„Sag was! Bitte sag, dass das der erste Schritt zur Lösung ist!“

Candace zögerte. Der Opa rannte zwischen Fernrohr eins und zwei hin und her. Ich ballte die Faust, bevor ich sie aufforderte:

„Hol deine Digitalkamera und dein Notebook! Bitte, schnell!“

Das Mädchen ließ sich nicht lange bitten und schoss wenige Minuten später Fotos vom Sternenhimmel. Jetzt kam Johannes zu Wort:

„Das muss es sein! Du hast dort auf dem schmalen Computer da tolle Programme drauf, nicht wahr? Du kannst Bilder übereinander legen, stimmt´ s?“

„Ja das kann ich, Onkel Johannes, beruhige dich!“

„Das wird er nicht so leicht können.“, grinste ich sie an.

Douglas hielt das Verbindungskabel der Kamera schon in den Händen. Bis alles Weitere vorbereitet war, guckte ich nochmals neugierig abwechselnd in beide Teleskope. Es war eine exakte Punkspiegelung wie in der Geometrie. Ich begann zu spielen, richtete die Geräte auf den dünnen Halbmond.

„Geradezu faszinierend, aber ob es auch die Lösung sei?“, dachte ich in mich hinein.

Großvater hatte seine rechte Hand auf meine Schulter gelegt.

„Diese Konstellation des Sternenbildes gibt es nur am heutigen Abend, Peter.“

Daraufhin setzte er sich und spielte ungeduldig mit seinen Fingern, während unsere Amerikaner fieberhaft an heutigen Methoden arbeiteten.

Das was wir zu sehen bekamen, verschlug uns die Sprache. Allen von uns. Ich weiß nicht, ob es nur mir so erging, aber ich vermute, dass auch die anderen ein unbeschreibliches Gefühl überkam. Ich definiere es heute als Gemisch aus überdimensional, realitätsfremd, Neugier, Wissenshunger und Glauben. Ein weiterer Gedanke, der durch meinen Kopf schoss war, wie simpel es eigentlich gewesen ist.

Candace legte nun die beiden spiegelverkehrten Bilder übereinander. Was wir zu sehen bekamen, war zu schön, um wahr zu sein. Eine Landkarte zeichnete sich ab, ein exaktes Abbild der kanarischen Inseln, verbildlicht durch das Überkreuzen des funkelnden Sternenmeeres. Johannes weinte vor Freude, während er noch nicht einmal bemerkt hatte, dass unsere Karte der Inselgruppe vom Original in den heutigen Aufzeichnungen abweichte. Wir anderen sahen es sofort und mussten auch nicht lange überlegen: Der Schlüssel war gefunden, man musste nur noch aufsperren.

Oberhalb des Nordostens Teneriffas war Land eingezeichnet, das zu jenem Zeitpunkt einfach nicht vorhanden war. Da gab es eben kein Land. Nicht mehr womöglich. Von der Größe her war es definitiv nicht Atlantis, aber vielmehr dessen Zugang. Was dieses doppelte Sternenbild vom 21. Dezember anzeigte, war eindeutig. Hinzu kam interessanter Weise noch, dass besonders hell leuchtende Planeten an der Wintersonnwende genau diese Fläche beschrieben.

„Diese Erhebung muss auch vulkanisches Land sein, das vor Jahrhunderten im Meer verschwunden ist“,

sagte ich zu den bereits nickenden Amerikanern. Mein Opa hatte derweilen schon das Mobiltelefon am Ohr und verhandelte mit einem Bekannten aus Playa del Inglés über den Mietpreis für dessen Luftkissenboot.

Keine acht Stunden später saßen wir in selbigem inklusive Taucherausrüstung für zwei Personen. Douglas hatte die Anzüge und Sauerstofflaschen auf Anweisung meines Großvaters um 7 Uhr morgens im Yachtclub von Mogán gekauft. Gewollt hätten wir sie schon um 4 Uhr morgens, denn an Schlaf war nicht zu denken gewesen in dieser Nacht. Als wir uns anblickten, wurde ohne Worte klar, welche beiden von uns in den Ozean springen würden.

Der durchtrainierte Footballspieler hatte seine Hose bereits abgestreift.

Douglas und ich ließen uns rückwärts vom Boot ins Wasser fallen und tauchten hinab an den Meeresgrund. Der Atlantik war durch die Küstennähe an dieser Stelle nicht sonderlich tief. Candace und Johannes mussten nun auf ein Ergebnis warten, bis der Tauchgang beendet war, denn eine Verbindung durch Funk war nicht möglich. Mein Großvater hatte sich die Anschaffung solcher Geräte gespart. Eine wunderschöne Unterwasserwelt tat sich uns auf. Noch konnten wir aber keine Gegenstände sehen, die uns als von Menschenhand geschaffen vorkamen. Der Sauerstoff reichte für zwei Stunden, die müssten genügen, um alles genau abzusuchen. Douglas drifte ein wenig ab. Das war auch gut so. Während ich im Tang nach Steinen oder anderen Fundstücken herumwühlte, tauchte er etwas oberhalb, um einen besseren Überblick zu haben.

Keine fünf Minuten vergingen, als mein Freund mit winkenden Bewegungen versuchte, mich ein wenig näher an das Küstenriff zu lotsen. Am Fuße einer einzelnen Klippe, die wir schon vom Boot aus gesehen hatten, machte es den Anschein, als wären flache Felsen so angeordnet wie eine Art Weg, der dorthin führte. Die Abstände waren erstaunlich gleichmäßig. Beide wussten wir sofort, dass es sich dabei nicht um einen durch die Natur ausgelösten Zufall handelte. Tatsächlich war am Ende dieses „gepflasterten“ Unterwasserwegs die Öffnung zu einer Grotte im schwarzen Vulkangestein.

Wir tauchten mutig hinein und hatten für einige Augenblicke Platzangst. Diese verflog schnell, als sich am Ende des Ganges ein smaragdgrün ausgeleuchteter Raum auftat, der zu unserer Freude nicht bis zur Decke mit Wasser gefüllt war. Das Licht musste durch einige Ritzen im Gestein hindurch dringen. Erwartungsvoll rissen wir uns die Tauchmasken vom Kopf, lächelten uns gegenseitig an und begutachteten dieses Gewölbe, das sich über der Wasseroberfläche noch etwa 20 Meter ins Innere der Insel erstreckte. Wir kletterten auf eine Art Bank aus Stein, die sich um das ganze Rondell zog.

„Leuchte einmal in den Gang da drüben, Peter. Ich will schnell Gewissheit, ob wir hier richtig sind.“, waren Douglas´ erste Worte.

„Wenn nicht hier, wo dann?“, erwiderte ich.

Durch meine Scheinwerfer bekamen wir unsere Gewissheit: Wir erblickten einen Altar aus Fels herausgeschlagen, auf dem ein gewaltiges steinernes Rad angebracht war. Wie zwei Besessene sprangen wir hinauf und sahen uns das Mysterium genauer an. Nach der Inschrift auf den Teleskopen bekamen wir nun den zweiten Hinweis zu unserem Glück, abermals in spanischer Sprache. Trotz des mit Meerwasser ausgespülten Rädchens konnte man sehr deutlich erkennen, was einst eingraviert wurde.

Si queréis mirar en el mundo de sombra, os reúne en este espacio.

„Übersetz das mal bitte, Peter, ich verstehe kein Wort spanisch“, merkte Douglas an.

„Wollt ihr in die Schattenwelt schauen, so versammelt euch in diesem Raum!“

„Das klingt jetzt aber unheimlich. Siehst du die Pfeile dort am Rand des Rades? Ich denke, man muss es in diese Richtung bewegen.“

„Mit Sicherheit, Americano. Aber wenn man den Text dazu berücksichtigt, sollten wir auf schnellstem Wege die beiden anderen hierher holen, meinst du nicht?“

„Natürlich. Bist du nachher bereit, an diesem Rad zu drehen, Peter? Hast du Angst?“

„Nicht die Spur. Ich bin aufgeregt, aber viel zu neugierig, um Angst zu verspüren.“

„Gut so! Los, lass uns zurück schwimmen.“

Als wir wieder vor der Küste auftauchten, bemerkten wir, wie weit wir vom Standort des Luftkissenbootes abgekommen waren. Jedoch konnten wir Johannes und Candace von weitem sehen und nach dem Gestikulieren meines Opas zufolge hatten die beiden uns auch bereits erkannt. Nach unseren Erzählungen verloren wir keine Zeit, sofort zum Hafen von Las Palmas aufzubrechen, um zwei weitere Taucherausrüstungen zu erwerben. Nach einer Stunde standen wir zu viert an den Klippen und gaben uns die Hände. Candace war extrem nervös. Dass mein Opa ein einziges Nervenbündel war, daran hatten wir uns bereits seit der Ankunft der Amerikaner am Flughafen gewöhnt. Wie Synchronspringer starteten wir gleichzeitig einen drei Meter hohen Sprung in das aufgewühlte Meer.

Vorab hatten wir beschlossen, dass ab jetzt ich das Kommando für die gesamte Mission übernehmen würde, egal ob zu Land oder zu Wasser. Folglich tauchte ich allen voran erneut in den Vortunnel der Grotte und war froh, dass Douglas sich darum kümmerte, Johannes davon abzuhalten, jetzt noch irgendetwas unter Wasser zu untersuchen, was sich außerhalb der „Atlantismühle“ befand.

Candace kämpfte noch mit Algen auf ihrer Taucherbrille, als wir wenig später alle gemeinsam am Ziel unserer bisherigen Bemühungen standen. Mein Opa ballte die Faust und hatte einen schon fast verbissenen Gesichtsausdruck, während Douglas und seine Freundin auf den Stufen saßen, ihre Gesichter frei machten und sich innig küssten. Ich hatte mich längst dem steinernen Rad zugewendet und bat meinen Opa noch, die Inschrift zu sehen, ehe ich etwas daran zu bewegen begann. Wir waren uns einig, jetzt nicht auszuharren, sondern jetzt festzustellen, was sich ereignen würde. Jedoch verschwendete keiner einen einzigen Gedanken, dass alles nur ein Irrtum gewesen sein könnte. Nun nahm auch Johannes Platz und schweigend sahen alle drei zu mir herüber. Es konnte beginnen.

„Euch ist schon aufgefallen, dass dieses Gebilde genau in acht Stufen unterteilt ist? Was mag das bedeuten?“

„Das werden wir herausfinden oder auch nicht. Fang doch jetzt bitte an und dreh es erst einmal eine Unterteilung weiter“, rief das hübsche Mädchen aus Texas herüber. Ich sah noch kurz, wie sie sich angespannt durch die durchnässten Haare fuhr und begann, das Rad zum ersten Eichstrich der acht Symbole zu rotieren. Anfangs musste ich alle Kräfte bündeln, um es in Bewegung zu setzen, doch nach wenigen Zentimetern glitt der Stein wie von selbst in die nächste vorgesehene Markierung. Nun hörte ich nur noch das Keuchen meines Großvaters. Es hatte es sich etwas Grundlegendes verändert. Mein Puls ging in die Höhe. Durch die Ritzen in den Felsen der Höhle drang kein Licht mehr ein. Douglas schaltete die Taschenlampe an. Ich sah das gleiche Bild wie zuvor mit einem Unterschied. Es war um 11 Uhr vormittags stockdunkel geworden.

„Das gibt´ s doch nicht. Das ist phänomenal! Wir müssen hinaus und nachsehen. Es ist etwas passiert. Das ist nicht zu fassen!“

Johannes war nicht zu bremsen und legte sich hastig wieder seine Taucherausrüstung an. Als alle so weit waren, tauchten wir ab, zurück nach draußen.

Wenn Faszination Grenzen hat, war diese wohl erreicht, als uns sich das Bild an der Wasseroberfläche präsentierte. Ein heftiger Sturm peitschte die Wellen in der Dunkelheit an die Küste Gran Canarias und selbige trieben uns an die Klippen zurück, von wo aus wir es gewagt hatten, ins Wasser zu springen. Wir konnten uns gegenseitig in einem Märchenfilm sehen, der sich vor unseren Augen abspielte, während wir damit kämpften, alle an die gleiche Stelle des Strandes zu gelangen. Johannes hielt sich an meinem Oberkörper fest.

Etwa 200 Meter über uns schwebten kleine Inseln in der Größe eines Fußballfelds. Sie sahen aus, als wären sie wie eine Pflanze mit ihren Wurzeln aus dem Erdboden herausgerissen worden. Es waren Lichter auf diesen Luftsiedlungen zu erkennen. Dazu kam, dass am Horizont eine Galeere zu sehen war, ein antikes römisches Kriegsschiff in all seiner Pracht. Weiter verwunderlich war, dass an diesem 22. Dezember in Gran Canaria ein abnehmender Halbmond zu sehen gewesen war.

Im Gegensatz dazu grüßte hier ein dicker Vollmond aus dem Universum herunter. Doch trotz aller Gegensätze, war der Erdboden, auf dem wir uns nach der Auseinandersetzung mit dem Meer befanden zweifellos Gran Canaria. Leider konnten wir die vor einer Stunde noch gesehene Stadt Las Palmas nicht mehr ausmachen. Ich ermutigte meine Genossen, jetzt in Ruhe eine erste Erkundung zu beginnen und möglichst nicht von Bewohnern entdeckt zu werden, die uns eventuell Böses wollten.

„Man kann nie vorsichtig genug sein, da hast du recht“, meinte Douglas.

„Das ist Atlantis, meine Lieben, das ist Atlantis. Das ist das Ziel. Wisst ihr, dass hier gerade ein ganzes Lebenswerk sein Ziel gefunden hat? Komm zu mir her, mein Junge!“, fügte mein Großvater in überschwänglicher Freude an und riss mich förmlich zu Boden.

Candace blickte nach oben:

„Alleine sind wir hier keinesfalls. Ich war immer ein sehr realistischer Mensch, aber das ist alles…das ist alles nicht wirklich wahr, oder?“

Ihr Freund nahm sie am Arm und zum ersten Mal bemerkte ich, dass er ein wohl sehr gläubiger Mensch ist, denn er betete und schüttelte dabei immer wieder erstaunt den Kopf.

Ich begann aber zunächst, wieder einigermaßen klare Gedanken zu fassen und forderte alle auf, nach Menschen zu suchen. Unsere Grübeleien, wie es möglich ist, aus dem Tag in Sekunden Nacht zu machen sollten bald beendet sein. Während eines einstündigen Fußmarschs ins Landesinnere konnte ich trotzdem nicht damit aufhören, immer wieder einen Blick zurückzuwerfen zu den über dem Ozean schwebenden Inseln. Dazu kamen noch zwei weitere römische Galeeren auf dem offenen Meer. Wieder nach vorne gewandt erschien nach vier Stunden das erste Tal zwischen den vulkanischen Gebirgszügen des nächtlichen Gran Canarias. Wir trauten unseren Augen kaum.

Während sich auf dem uns bekannten Ferienparadies das Leben an den Stränden und den dazugehörigen Städten abspielte, erhob sich vor uns eine gewaltige Stadt. Sie funkelte nicht weniger schön als das, was wir vor dem Betreten der Grotte gewohnt waren. Ein kreisförmig angeordnetes Wohngebiet rahmte ein auf erhöhter Lage situiertes Kastell ein, das in seiner Größe wohl jede Burg oder Festung unserer Welt übertraf. Das Kastell alleine war mutmaßlich eine eigene Stadt innerhalb einer noch größeren Metropole. Doch der wohl eindrucksvollste Aspekt war, dass dieses überdimensional riesige Schloss im Herzen der wohl einfacheren Gebäude drum herum von goldener Farbe war und von allen Himmelsrichtungen in verschiedenen Farbtönen abwechselnd angestrahlt wurde. Ein paar hundert Meter weiter bemerkten wir, dass an den steilen Wänden der Bergmassive rund um die Stadt Parabolspiegel angebracht waren, die sich abwechselnd das zuckende Licht gegenseitig zuwarfen. Diese Reflektoren mussten einen Durchmesser von etwa 150 Metern haben.

Wir wussten ohne zu reden und nur durch gegenseitiges Ansehen, dass keiner von uns Vieren jemals so etwas schon einmal gesehen hat. Dazu kam, dass es nun den Eindruck erweckte, als würden die anfangs beobachteten Luftsiedlungen ganz Gran Canaria umkreisen. Sie zogen nämlich wie Zeppeline über diese Märchenstadt hinweg und man konnte auch ohne genaues Hinsehen erkennen, dass sie über ebenfalls angebrachte Lichtquellen in Form von Blitzen mit der Bodenfraktion kommunizierten. Schönheit, Perfektion, Vereinigung von klassischer Antike mit moderner Technik gaben uns hier ein Bild preis, das kein Regisseur der Welt hätte besser inszenieren können.

„Wir sind in einem Traum. Das ist ein…ich freue mich, in eurer Begleitung zu sein“, schoss es dann plötzlich aus Johannes heraus.

„Zauberei. Das ist Gran Canaria…aber das ist doch…nicht Gran Canaria“

„Atlantis. Atlantis ist hier. Hier sind wir in Atlantis. Und es ist genau 3 Uhr am Nachmittag, aber es 3 Uhr morgens!“

Als Douglas das sagte, riss er seine Augen auf und man merkte, dass er sich bemühen musste, seinen Atem zu beruhigen. Dieser Mann stand kurz vor eine Hyperventilation. Seine Freundin war so überwältigt, dass man in ihren Augen einen Ausdruck erkennen konnte, den ich heute als Angst und gleichzeitigem Glücksgefühl beschreiben würde. Zugegebener Maßen eine merkwürdige Kombination. Unerwarteter Weise begann mein Opa Johannes nun zu laufen. Es ging recht steil abwärts und der Weg ins Tal hinab war voll mit Geröll. Nachdem ich ihm zurief, er solle sich vorsehen, liefen wir bereits hinterher und fingen nur kurz seine Antwort auf, dass er in sein Leben schon genug in Unwissenheit verbracht habe und dass der Tag gekommen sei, alles zu erfahren, was ihm zustehe.

In einem Punkt hatte er Recht. Der Tag sollte wohl nicht mehr fern sein, sondern in dieser Welt, die wohl den Gegensatz zu der unseren repräsentiert, würde es nach unseren vorläufigen Berechnungen auch nicht mehr lange dauern, um das erste Morgengrauen mitzuerleben. Dieser Jetlag war mit Sicherheit nicht mit dem zu vergleichen, den unsere Amerikaner durchlebten, als sie von Dallas über Madrid nach Las Palmas de Gran Canaria geflogen waren.

Durch den Hetzlauf meines Großvaters kamen wir rasch in den Vororten des vermeintlichen Atlantis an. Hier zeichneten sich keine wesentlichen Unterschiede zum Leben bei uns zu so später Stunde ab. Man sah vereinzelt Menschen in den Gassen. Ganz normale Menschen. Dennoch sahen wir sie an, als wären sie etwas anderes. Man konnte uns das wohl nicht übel nehmen, jedoch wäre so eine Musterung einer Person in unserem normalen Leben eine Frechheit, ja sogar unverschämt gewesen. Da ich offiziell als Anführer auserkoren wurde, ordnete ich nach fünf weiteren Kreuzungen an, dies jetzt zu unterlassen und das Wesentliche zu suchen.

Das, was wir suchten, war jemand, der uns alles erklären konnte und zugleich keine Gefahr für uns darstellte. Wir waren uns sehr schnell einig, dass wir uns bis zum goldenen Kastell mit niemandem unterhalten würden. Wo sonst, außer in diesem Gebäude, sollte jemand gefunden werden, der all unsere Wünsche erfüllen konnte. Ein Verirren in den Straßen war unmöglich, das imposante Schloss war allgegenwärtig und wohl von jeder Stelle dieser Stadt aus zu sehen.

Es dauerte bis zum Morgengrauen, bis wir am Fuße der Festung standen. Nach einer kleinen Streiterei zwischen Candace und Douglas waren wir wenige Minuten zuvor zu Dieben geworden, in dem wir uns an einer Wäscheleine bedienten und unsere Taucheranzüge gegen ein paar Stoffhosen und Hemden eintauschten. Es war kein Mensch zu sehen gewesen, somit taten wir alles, um möglichst unauffällig zu einer Person zu gelangen, die in „dieser Welt“ etwas zu melden hat.

„Ich habe so einen Durst.“

„Die Tore stehen offen. Wie kannst du jetzt nur an ein Getränk denken, Candace?“

„Hör auf, Douglas, sie hat sich doch schon beruhigt wegen dem Klamotten klauen. Lass sie jetzt.“, nahm ich die Antwort des Mädchens vorweg und rempelte ihn an.

Die Tore zum Burgberg standen tatsächlich offen. Ungestört und in aller Ruhe konnten wir durch das ganze Areal spazieren. Weder Wächter noch Aufpasser. Meinem Opa konnte man nun die Erschöpfung ansehen. Zur Reizüberflutung durch alles Geschehene kam nun der befürchtete Jetlag ohne Flugzeug und natürlich sein Alter. Als ich ihn danach fragte, ob er ein Stündchen Pause machen möchte, reagierte er energisch mit „Nein“. Somit planten Douglas und ich eine Ansprache für ein mögliches Durchkommen zu einem Politiker oder Stadtverwalter.

„Wenn man sich diese Metropole genau ansieht, ist eher mit einem König oder Kaiser zu rechnen als mit einem Bürgermeister, findest du nicht, Peter?“, sagte Candace, die nun wieder ein Lächeln im Gesicht hatte.

Die Morgendämmerung setzte nun ein. Ein lauer Wind glitt durch die Palmen und brachte feine, im Gesicht leicht prickelnde Sandkörner aus der Sahara mit herüber. In den Ritzen des liebevoll gestalteten Kopfsteinpflasters sah ich, dass auch Sandstürme der heftigeren Art keine Seltenheit waren. Somit ging ich davon aus, dass auch in Atlantis so etwas wie die Dünen von Maspalomas möglich waren. Doch all diese Eindrücke hielten mich nicht davon ab, in erster Linie an das Wichtigste zu denken. Der Glauben hatte sich bestätigt, nun war Wissen und Bestätigung gefragt. Ich wurde noch während des Marsches jäh aus meinen Gedanken heraus gerissen, denn auf dem Vorhof des Haupteingangs standen mehrere Dutzend junger Männer, die offenbar in eine Auseinandersetzung verwickelt waren. Sie schrien sich gegenseitig an, als wäre ihre Existenz in Gefahr oder jemand hätte ihnen übel Unrecht getan. Die Streiterei war so laut, dass unsere kleine Gruppe ohne Aufsehen zu erregen einfach vorbei spazierte.

Douglas sagte nun, es wäre an der Zeit, jemanden anzusprechen. Wir waren alle sofort einverstanden. Wenige Schritte weiter kam ein Torbogen, an dessen Fuß eine junge Frau etwas nachzumessen versuchte. Sie zeichnete exakte Daten auf ein großes Stück Papier auf. Mein amerikanischer Freund ging auf sie zu und sprach sie höflich an:

„Guten Tag, dürfte ich sie um eine kurze Information bitten? Meine Begleiter und ich kommen nicht von hier und möchten gerne mit einem für diese Stadt Verantwortlichen sprechen. Können sie uns freundlicherweise weiterhelfen?“

„Sie sind hier fremd? Das ist ja eine Überraschung“, entgegnete sie und sprach weiter:

„Es kommen äußerst selten fremde Menschen in diese Stadt. Die Anreise zur Insel ist doch sehr beschwerlich, nicht wahr? Natürlich kann ich ihnen helfen. Diese Stadt wird aus der Kuppel des Zentralgebäudes, das sie bestimmt schon von außen gesehen haben, verwaltet und regiert.“

Ich mischte mich in das Gespräch ein:

„Das haben wir gesehen, wunderschöne Architektur. Wird es schwer, einen Termin zu einer kleinen Unterredung bei diesem Herren zu bekommen?“

„Bei der Dame, meinen sie?“. Die Frau schmunzelte.

„Ich bin die Tochter der Königin und versichere ich ihnen, dass sie durch mich sehr schnell zu ihr gelangen können. Doch vorher möchte ich wissen, woher sie kommen und was ihr Anliegen ist.“

Kurzzeitig blickte ich mich zu den anderen um. Johannes nickte und ich nahm all meinen Mut zusammen:

„Sie vermessen als Tochter der Königin höchstpersönlich die Gebäude, das ist sehr ungewöhnlich. Darf ich sie um ihren Namen bitten, bevor ich ihnen eine lange und wohl sehr außergewöhnliche Geschichte erzähle?“

„Das dürfen sie. Mein Name ist Nina, ich bin die einzige Tochter der Königin von Atlantis und ich regiere unter meiner Mutter den Stamm der Windsiedler.“

Nun schaltete sich mein Großvater ein:

„Es gibt hier Stämme? Wie viele an der Zahl?“

„Man merkt, dass ihr noch niemals hier wart. Woher ihr auch kommt, es ist seltsam, dass ihr so wenig über den Mittelpunkt der Welt wisst.“ Wir wurden alle etwas starr, doch Nina fuhr fort:

„Atlantis ist in drei Stämme unterteilt, wisst ihr? Die Windsiedler, deren fliegende Inseln über dem Land kreisen. Die Stadtbewohner, dessen Heimat ihr heute durchquert habt. Und zu guter Letzt die Seefahrer, deren Galeeren auf dem Ozean Atlantis umrunden. Wir arbeiten alle zusammen für das Wohlergehen aller und ergänzen uns gegenseitig, bis die atlantische Welt durch die Wunder befreit wird.“

Jetzt wurde es interessant, denn wir wussten durch diese Aussage, dass Königin Carmen, ihre Tochter Nina und die gesamte Bevölkerung auf ein Erreichen dieser Welt durch uns wohl sehnlich gewartet hatten. Ganz bewusst verschwiegen wir diese Neuigkeit der jungen Prinzessin. Johannes reagierte blitzschnell und konnte noch für denselben Abend eine Vorsprache bei der Königin aushandeln. Nina gönnte uns noch einen Blick auf die geographische Karte von Atlantis. Es gab keinen Zweifel mehr. Es war Gran Canaria.

Candace und Douglas standen nur noch mit offenem Mund da und Johannes vertraute mir an, dass zu diesem Zeitpunkt sein Leben einen Sinn ergab. Ich selbst dachte in diesem Moment an mein Leben vor dieser Reise und vermisste innerlich meine Eltern, meine Freunde und meine Heimat, denn ich war sehr unsicher, ob eine Rückkehr so einfach möglich wäre wie das hierher Gelangen. Ich hatte mich in einer Nische unter dem Torbogen gesetzt und spielte mit meiner Halskette. Dass ich vielleicht nie wieder meine geliebten Menschen sehen würde, machte mich innerlich rasend, jedoch wusste ich auch, dass der Blickwinkel nach vorne gerichtet sein musste. So begann alles, so sollte es weitergehen und auch enden.

„Heute Abend wird zu Ehren der Wunder der Erde ein jährliches Fest am Hof von Atlantis ausgerichtet. Meine Mutter wird Zeit finden, mit euch zu sprechen. Wollt ihr mir nicht sagen, worum es genau geht? Dann könnte ich ihr womöglich erzählen, dass es sich um eine wichtige Angelegenheit handelt. Allein die Tatsache, dass ihr Fremde seid, wird sie mit Gewissheit interessieren“, merkte Nina neugierig an.

„Wir haben in einer Grotte vor der Küste der Insel an einem großen steinernen Rad mit acht Etappen gedreht und sind in einem nächtlichen Atlantis gelandet. Bevor du uns für verrückt erklärst, möchten wir doch erst lieber mit der Königin sprechen“, entgegnete ihr mein Opa, der wieder vor Energie strotzte.

Wir erfuhren, dass das goldene Kastell den schönen Namen „Palast der Wunder“ trug. Die Vorbereitungen der Feierlichkeiten waren in vollem Gange. Leider wurde im Vorfeld die Stimmung etwas getrübt. Zwei Mitarbeiter wurden angeblich bei einem Experiment unter der Leitung von Herrn Frost, verantwortlich für den Stamm der Stadtbewohner, getötet. Es galt uns in erster Linie uns mit Carmen bekannt zu machen, wohl aber auch herauszufinden, mit welchen Experimenten Atlantis sich beschäftigt. Die Schattenwelt hatte es bei Gott in sich. Ohne viel nachdenken zu müssen erkannte man, dass diese Welt eingeschlossen war. Für jedes Problem gibt es eine Lösung. Diese kannte man augenscheinlich im Königshaus, konnte sie nur nicht verwirklichen.

Candace strich sich durch ihr langes braunes Haar mit den blonden Strähnchen. Der Wind auf dem langen Balkon des Palasts, der sich um die ganze Befestigung zog, wirbelte es ihr immer wieder aufs Neue durcheinander. Johannes, Douglas und ich begutachteten nochmals die Umgebung. Wir sahen die Galeeren auf dem offenen Meer und die schwebenden Inseln am Horizont. Vor dem Eingang seitlich der hohen Terrasse war ein rotes Seil gespannt, das darauf wartete, von einem Bediensteten der Königin geöffnet zu werden, um uns in einen vorbereiteten Raum zu führen. Während mein Großvater in alten Aufzeichnungen herumwühlte, die er noch aus Mogán in der Hosentasche hatte, nickte einer der Wächter zu uns jungen Männern herüber. Ein Zweiter öffnete die die Absperrung und gab und ein Winkzeichen. Keiner von uns sprach auch nur ein Wort aus, bevor wir in die Räumlichkeiten von Carmen spazierten. Ich kam mir vor wie im Mittelalter, die Uniformen der Palastangestellten vermittelten aber auch keinen anderen Eindruck.

„Legt eure Mäntel ab. Bitte tretet nun vor.“

Hinter uns stand ein bulliger Kerl, er erinnerte mich an einen Kraftsportler. Doch auch seine Garderobe hatte mit unserer Zivilisation recht wenig zu tun.

Wir befanden uns in einer Art Kuppel, an der Decke waren Verzierungen angebracht, die mich an eine Art Mischung aus afrikanischen Motiven und Gestalten aus der griechischen Mythologie erinnerten. Jeder Kunsthistoriker hätte sich alle zehn Finger abgeleckt, dies jetzt genauer erforschen zu können, aber an uns vier zog es spurlos vorbei. Königin Carmen galt unsere Aufmerksamkeit. Ohne sie würden wir nicht erfahren, was uns geschehen war und man durfte annehmen, dass sie in uns eine Brücke sah. Eine Brücke zur Auflösung des wohl größten Rätsels der Geschichte der Erde.

„Carmen!“, schallte es durch den mächtigen Prunkraum. Mein Opa vibrierte am ganzen Körper. In der Lichtwelt Gran Canarias hätte man ihn in diesem Zustand in ein Krankenhaus gebracht.

Das Gesicht von Atlantis, Königin Carmen, schlich dezent in Leinen gekleidet aus einem Nebenraum und kam dann in flottem Schritt auf uns zu, indessen wir wie angemeißelt nicht unweit der überaus hohen Fenster still standen und auf das erste Wort warteten, das sie hoffentlich bald von sich geben würde.

„Holt meine Tochter noch herbei!“, rief sie einen Diener auf, noch während sie auf uns zu kam. Sie lächelte. Wir hatten erwartet, dass ihre Tochter Nina an dem Gespräch teilnehmen würde, war doch sie diejenige, der wir die rasche Einladung an den obersten Hof zu verdanken hatten.

In kürzester Zeit hatten mein Großvater und wir drei anderen geschildert, wie es dazu gekommen war, in den anderen Teil der Spiegelwelt einzudringen. Carmen war weder überrascht noch schockiert. Bis ins Detail erläuterten wir, dass es fast zwei Menschenleben gekostet hatte, um mit Hilfe zweier Teleskope, viel Spontanität und Glauben an Irreales nach Atlantis zu gelangen. Ihre Antwort darauf war, dass es irgendwann passieren hat müssen und nun die Gelegenheit gekommen sei, die Abgeschiedenheit ihrer Welt zu verdammen, zumindest mit einem Versuch mit Hilfe von uns.

„Atlantis ist ein vollendetes Wunder“, flüsterte sie mir mit ihrer zarten Stimme zu. Sie war sehr abgemagert und befasste sich wohl innerlich seit Jahrzehnten mit dem Schlüssel zur Befreiung ihres Volkes.

„Wir haben den Frieden schon längst gefunden, aber die Sehnsucht macht uns verrückt.“

Darauf nahm ich meinen Mut zusammen und fügte an: „Wir haben den Frieden noch nicht gefunden, die Sehnsucht ist uns eher fremd, da Atlantis ein Mythos für uns war. Nichts wirkliches, nur Beschreibungen von Menschen, die keiner sonderlich ernst nahm. Wir leben nicht in Frieden miteinander wie ihr.

Carmen kam schnell zum Wesentlichen:

„Wenn ihr behauptet, ihr seid durch das Drehen des steinernen Rades mit den acht Stufen zu uns gelangt, so glaube ich euch das!“

Wir sahen und erleichtert an, als sie fortfuhr:

„Einer von euch hat Hand angelegt, wer von euch war das? Er ist jetzt in der Lage, im Palmenwald von Atlantis das Tor zum ersten Weltwunder der Antike zu öffnen. Unsere Befreiung funktioniert erst durch eine Mission, eine Reise von euch, meiner Tochter und mir zu jedem Einzelnen dieser Wunder. Denn sie hängen alle miteinander zusammen. Ihr habt es sicher erwartet, was ich jetzt sage: Atlantis, ja, unsere Stadt ist das achte Weltwunder und das Größte von allen. Doch seine Macht wird erst deutlich werden, wenn ihr die Schicksale, die hinter den sieben anderen Stecken, gerächt habt.“

Johannes klopfte mir auf die Schulter, Douglas hielt Candace´ s Hand und auf das „Folgt mir nun“ der Königin stiegen wir ihr und Nina nach. Wir gingen zuerst am hinteren Teil des Palastes hinab und der angekündigte Palmenwald bedeckte gut die Hälfte des Tals, das sich vor uns auftat.

Schon wenig später kamen wir an ein Gebilde, wohl aus dem Berg herausgeschlagen, das uns sieben verriegelte Höhleneingänge zeigte. Jede der mächtigen Platten zeigte ein Symbol. Johannes und ich mussten nicht sehr viel darüber nachdenken. Es waren dieselben Zeichen, die auch auf dem Rad in der Schattenweltgrotte markiert waren. Herr Frost war bereits vor Ort und begrüßte sein Oberhaupt mit erwartungsvoller Mimik.

Ich eröffnete der Elite von Atlantis, dass ich es gewesen sei, der das Rad in der Grotte in Bewegung gesetzt hatte. Carmen erklärte mir in aller Ruhe, wie ein Weiterkommen nun ermöglicht werden kann.

„Auf der ersten verschlossenen und zugeschütteten Höhlentür siehst du eine Einkerbung, eine menschliche Hand stellt sie dar, nicht wahr?“

Ich nickte nur.

„Diese Hand steht für die menschliche Kraft, die hinter all den Bauwerken in Atlantis steckt. Sie ist der Eingang zum ersten Weltwunder, den hängenden Gärten von Babylon.“

Johannes und Douglas strahlten sich förmlich an, während Candace bereits die Symbole auf allen anderen Muren begutachtete und abfotografierte.

Auf der zweiten Platte war der Abdruck eine Pflanze zu erkennen.

Carmen erzählte voller Stolz weiter:

„In den hängenden Gärten müsst ihr neben der Entschlüsselung der ersten Mission eine Pflanze mitbringen, die euch folglich den einen weiteren Eingang, den Zutritt zum Koloss von Rhodos ermöglicht. Dieser Koloss hat wirklich existiert, meine Freunde, er ist das zweite Weltwunder der Antike. Auch dort werdet ihr einen Gegenstand suchen müssen, der euch Tor 3 öffnen wird.“

Unsere Faszination lag spürbar in der Luft, unsere Amerikaner konnten ihre Nervosität nicht mehr verbergen, zu übersinnlich waren die Aussagen der sympathischen Königin. Diese holte noch einmal aus:

„Jedoch muss einer von euch hier bleiben. Bevor du, Peter, deine Hand in die Vertiefung des ersten Eingangs legst, muss zuvor jemand in der Grotte das riesige Rad auf Stufe 2 bewegen. Ohne zu zögern willigte mein Großvater ein und deutete damit an, dass er in seinem Alter nun das steuern wollte, was er noch konnte und die Missionen uns Jungen und der Königsfamilie überließ.

„Peter, mein Junge. Seid vorsichtig. Auch die Weltwunder gehören zur Schattenwelt und könnten theoretisch Gefahren mitbringen, auf die ihr nicht vorbereitet seid.“ Er umarmte mich, die beiden Amerikaner und schlich fort.

Einmal drehte er sich noch um, kratze sich am Kopf und rief uns zu:

„In einer Stunde bin ich in der Grotte und drehe. Gott will, dass ich das mache. Lebt wohl und kommt gut zurück aus Babylon, meine Liebsten!“

In diesem Moment wusste ich, dass mein Opa ein sehr großer Mann ist. Er hatte sein Ziel erreicht. Den Rest wollte er uns schenken, weil er schon seit der Bleibe in Mogán blindes Vertrauen zu uns aufgebaut hatte.

In dieser Stunde, die uns allen zu Warten blieb, ließ das Königshaus Reiseproviant und kleinere Spezialwaffen in den Palmenwald bringen. Carmen und Nina schlossen sich uns nun an. Sie wollten mit auf die Reise. Es freute uns sehr. Herr Frost gab der Königin einen letzten Handschlag, mit dem er ihr zeitgleich versicherte, Atlantis mit ihrer Erlaubnis und in ihrem Sinne zu verwalten. Er schien sichtlich gerührt.

Die Stunde war längst vergangen.

Ich legte meine Hand in den historischen Abdruck des Felsens. Schon nach Sekunden wurden meine Finger und die Handfläche glühend heiß. Schmerzverzerrt stieß ich einen lauten Schrei aus.

„Peter!“, rief Nina besorgt und riss meine Hand aus der Vertiefung. Sie sah mich an. Mir fiel nun erst auf, dass Nina eine Frau ist, die ich in München angesprochen hätte, wäre sie mir zu Partyzeiten begegnet. Ich lächelte:

„Es geht schon wieder, Prinzessin. Danke.“

Wie in einem Märchenfilm glitt die verschlossene Türe auf die Seite und ein dunkler Höhleneingang tat sich auf.

Douglas und Candace jauchzten in amerikanischer Manier, packten mich an beiden Armen.

„Peter, geh ruhig rein“, schmunzelte der Amerikaner.

„Wir kommen schon nach, keine Sorge, mein Freund.“

Ich begab mich zur Öffnung, wendete mich allen zu und sagte nüchtern:

„Ich gehe jetzt in diese Höhle bis zu den hängenden Gärten von Babylon. Kommt doch einfach mal mit!“

Sie grinsten, während ich in der Dunkelheit verschwand. Den Atem von Douglas im Nacken hatte ich aber schon längst gespürt.

KAPITEL 3

Die hängenden Gärten von Babylon

Die Dunkelheit und modriger Geruch machten sich breit. Carmen erleuchtete den Gang mit einer Laterne und bat mich, sie nun voraus gehen zu lassen. Wir erreichten einen größer werdenden Stollen und hörten in schwer abschätzbarer Entfernung Wasser rauschen. Die Königin wandte sich an uns und versicherte, dass alles, was sie uns nun im Vorfeld erklären würde, auch für ihre Tochter Nina etwas Neues sei.

„Ich habe noch niemals jemanden vollständig über das Geheimnis der sieben Weltwunder eingeweiht. Mein Vater hat es mir am Sterbebett übergeben und so wäre ich auch mit dir verfahren, Nina, hätten es diese beiden jungen Männer, das Mädchen und Johannes nicht geschafft, die Grotte zu finden und bis zu uns vorzudringen.“

Nina nickte verständnisvoll. Sie behielt in jeder Situation Ihre Schönheit. Der Mission zu Liebe in ihrer ganzen Brisanz hielt ich meine Zuneigung bisher sehr gut zurück. In meinem alten, leichtsinnigen Leben wäre sie mir längst zum Opfer gefallen, kein Zweifel.

Königin Carmen begann zu erläutern, wo wir waren, wie es ab diesem Punkt weitergeht und wie viel Arbeit und Kraft noch von uns allen verlangt werden würde.

Nach ihren Informationen waren die hängenden Gärten von Babylon das erste der sieben Wunder, das durch die Bosheit, Niedertracht und Grausamkeit eines Mannes namens Nebukadnezar circa 500 v. Chr. entstanden ist. Weiterhin waren diese Gärten der erste Pfeiler von den sieben, der Gott dazu veranlasst hat, die sieben Weltwunder der Antike samt Atlantis, unserem achten, in eine Verdammung namens Schattenwelt zu verfrachten.

„In unserer Schattenwelt liegen die hängenden Gärten in mitten der Stadt Babylon. Genau wie Atlantis könnt ihr sie in der Lichtwelt nicht wahrnehmen. Ich möchte aber gar nicht wissen, ob die Situation in Babylon in eurer Parallelwelt viel besser aussieht. Peter, du hast mir ja erzählt, dass selbst bei euch nichts heile ist. Die einzigen, die das geschafft haben, sind wir. Wir in Atlantis.“

Carmen wirkte ein wenig stolz, als sie weiter ausholte:

„Wahrscheinlich sind wir deshalb der Ausgangspunkt, um die Schattenwelt zu erlösen. Ihr werdet nun sehen, was hier passiert ist und sich immer noch ereignet.“

Douglas, Candace, Nina und ich schwiegen. Durch mein geschichtliches Wissen wusste ich, dass die Sagen umworbene Stadt Babylon im heutigen Irak liegt und dieser Ort einer Lichtwelt nach meinen Vorstellungen auch nicht unbedingt entsprach.

Das Rauschen des Gewässers kam immer näher und wenige Kurven weiter konnten wir sehen, dass der Tunnel endete. Der unterirdische Bach floss am Ende des Stollens in eine Wiese und schien dort zu versickern. Geblendet von der Sonne stiegen wir ans Tageslicht. Schon wenige Meter weiter befahl uns Carmen, uns im hohen Gras zu ducken. Eine Gruppe von Männern in schäbigem Gewand zog direkt vor unseren Augen vorbei. Alle von ihnen schleppten etwas Schweres in einer Art Bauchtasche mit sich herum. An deren Gesichtsausdruck konnte man erkennen, dass sie das keineswegs freiwillig taten.

„Geknechtet und verschleppt! Verdammt zum Arbeiten für einen Herrscher ohne Gnade und Erbarmen!“, flüsterte uns Carmen zu.

Nebukadnezar, der König von Babylonien, hatte jahrelang und Stück für Stück das Volk der Juden entführt, gedemütigt und zur Fronarbeit verdammt. Diese Menschen, die da in Richtung des Zentrums dieser Stadt wanderten, waren Knechte des Tyrannen. Mit viel Blutvergießen hatte er die Gefangenen und Heimatlosen gezwungen, mitten in der Wüste, im vertrockneten Land Babylons, eine Gartenlandschaft zu gestalten. Hängende Gärten mit Terassen in einer Größendimension, die ans Unvorstellbare grenzten. Carmen gab nun alles preis, was sie wusste.

„Für seine Frau Semiramis hat er es getan, dieser Unmensch. Anscheinend scheint er wenigstens einen Menschen zu lieben. Viele haben schon ihr Leben gegeben, um Nebukadnezars Gemahlin so etwas zu errichten. Gestorben aus Erschöpfung oder Todesfolter.

Candace und Douglas vergaßen in diesem Moment alle Inszenierungen aus den Kinofilmen ihres Heimatlandes und standen mit weit geöffnetem Mund vor diesem Bauwerk. Es war die Zeit gekommen, jetzt etwas zu unternehmen. Man hoffte auf Anweisungen Carmens. Unser Ziel war die Entführung des Herrschers und die Beendigung der Sklaverei. Im Notfall schlossen wir auch einen Mord an Nebukadnezar nicht aus.

Die Dämmerung brach über Babylon herein und die Ränder der Gärten wurden mit lodernden Fackeln hell erleuchtet. Somit brachte man die einzelnen Trassen auch in der Dunkelheit zum Erstrahlen und Bewundern. Diese Uhrzeit hatten wir bewusst in den Feldern abgewartet, um in aller Ruhe an die Eingänge des Kunstwerks zu gelangen. Nina ging nun voraus, ihre Mutter blieb etwas weiter hinten und erzählte uns während des Marsches alte Geschichten aus Atlantis. Sowohl die, die sie selbst erlebt hatte, als auch jene, die ihr überliefert wurden. Ganz in der Nähe der Gärten fanden wir eine verlassene Holzbehausung. Ich fragte in die Runde, ob wir uns dort für ein paar Stunden verschanzen, um Carmen die Möglichkeit zu geben, uns in ihre Pläne einzuweihen. Noch vor dem Einstieg in den Stollen hatte sie etwas Wichtiges erwähnt: Seit Jahren hat man Taktiken zur Befreiung jedes der sieben Weltwunder besprochen. Es kamen von vielen Bewohnern Atlantis´ gute Ideen und Carmen schien vorbereitet.

„Man hat immer mit einem Durchbruch von Menschen aus der Lichtwelt gerechnet. Da es nun soweit ist und wir hier sind, sage ich euch jetzt, was wir uns für die hängenden Gärten der Semiramis einfallen haben lassen. Es ist sehr leicht, wenn uns nichts dazwischen kommt.“

Carmen begann zu flüstern, Douglas, Candace, Nina und ich saßen bereits auf ein paar verwitterten Baumwurzeln in der Hütte und hörten aufmerksam zu.

„Ich weiß, dass jeden Tag tausende Arbeiter zur Bewässerung benötigt werden. Ich weiß auch, dass die Stadthalter die Verschwendung Nebukadnezars nicht für gut halten und sie sein Lebensende nicht sonderlich stören würde.

Douglas und Peter sollten morgen unauffällig unter die Wasserträger mischen. Wir Frauen suchen die Küche der Kanzlei. Ich habe hoch konzentriertes Gift dabei, das ich weiterem Gift aus der Nachbarortschaft mischen werde. Das versuchen wir in das Essen der Oberen zu bringen, wenn wir dort organisiert hineingelangen.

In all der Aufregung, die entstehen wird, könnt ihr Männer euch als Arbeiter leicht in den Essensaal Nebukadnezars schleichen. Dort werdet ihr nachsehen, ob Nebukadnezar noch am Leben ist. Ich gebe euch ein Zeichen, wenn es soweit ist. Falls ihn das Gift nicht tötet, sondern nur lähmt, dann stecht ihn nieder oder verschleppt ihn. Im zweiten Fall lassen wir bringen wir ihn nach Atlantis und stellen ihn dort vor Gericht. Als ein Teil der sieben Gründe für die Existenz der Schattenwelt wird er ohnehin zum Tode verurteilt und öffentlich hingerichtet.“

Nach diesen Sätzen wurde uns bewusst, dass wir uns durch Johannes in einem Krieg befanden. Ich fragte mich, warum gerade ich so einen Einfluss auf die Zukunft haben sollte. Ich hatte in meinem Leben noch nie etwas erreicht. Zum Nachdenken über das alles hatte Douglas keine Zeit. Seine Freundin und er ließen sich von Prinzessin Nina bereits Stichwaffen und Betäubungsmittel zeigen, die Carmen in Nina´ s Tasche untergebracht hatte. Douglas und ich machten uns bis zum Morgengrauen eine Flasche edlen Bourbon auf und waren nach den Stunden des Wartens einer Meinung:

Wenn wir unser altes Leben eines Tages wieder haben möchten, müssen wir das bis zum bitteren Ende durchziehen. Auch war uns klar, dass Carmen im Recht war und für das Gute eintrat. Candace wachte alle 30 Minuten auf und flachste:

„Ihr braucht wohl keinen Schlaf, Knechte! Saufen könnt ihr. Aber morgen auch euren Auftrag erledigen, verstanden? Ich möchte als Heldin in die Welt zurückkehren.“

Daraufhin gossen wir uns nach. Wir stießen an.

„Auf meinen Opa und eine kostenlose Weltreise in den antiken Geschichtsunterricht. Schön ist es hier. Bald ist es noch schöner.“

In den prächtigen Nebengebäuden der Anlage saß Semiramis mit ihrer lockigen braunen Mähne vor einem gedeckten Tisch und flüsterte einem Diener ins Ohr. Diese huschte daraufhin aus dem Saal in die Katakomben unterhalb des Wohnhauses und gab einen tödlichen Befehl. Zwei Henker waren sofort zur Stelle und schleiften einen völlig erschöpften Mann aus seinem staubigen Verlies, in dem zwei weitere abgemagerte Greise in Ketten an der Wand kauerten. Zwischen den beiden konnte man Federn und fast zerfallene Knöchelchen von Hühnerbeinen sehen. Der einzige Lichtstrahl schimmerte durch ein winziges Loch an der Decke. Man dürfte sich fragen, welche Strafe die Grausamere wäre. Hier bis zum Todesurteil vegetieren oder den Körper bis zum Zusammenbruch und Herztod in der Gluthitze der Bauarbeiter zu schinden.

Die unerbittliche Sonne Babylons stand hier im Kontrast zum Gewölbe der Menschenunwürdigkeit schlechthin.

Um nicht viel Aufsehen zu erregen schlugen sie das aus der Zelle herausgeführte Opfer kurzerhand nieder. Er war auf der Stelle bewusstlos. Kein Mitgefangener in den anderen Kerkern sollte mitbekommen, dass dieser Mann auf Anweisung der Königsgattin innerhalb einer Stunde beiseite geschafft werden sollte. Es handelte sich hierbei nämlich um den älteren Bruder der Semiramis. Bei seinem Leben hatte jener geschworen, nicht hinter seiner Schwester zu stehen, die ihm leichtsinnig ihr Vorhaben verraten hatte, was sie vorhatte. Ihr Plan war, den Gemahlen Nebukadnezar umzubringen, wenn die Gärten komplett vollendet sind, um das gesamte Reich in den Besitz ihrer Familie zu bringen, und zwar dauerhaft.

Für ihren abgestraften Bruder war dieses Vorhaben für eine persisch stämmige Familie nicht zu bewältigen. Dafür sollte ihr eigen Fleisch und Blut sterben müssen. Hätten wir zur gleichen Zeit in unserem Versteck diese Informationen gehabt, hätten wir beide, Semiramis und Nebukadnezar ins Visier genommen. Augenscheinlich schenkten sie sich beide nichts an Kaltblütigkeit.

Carmen und Nina schickten nun Douglas und mich im Morgengrauen in einen Tross von Sklaven. Tatsächlich war es relativ einfach, sich unter die Gruppe zu mischen. Die Arbeiter kamen aus aller Herren Länder. Man verstand kein einziges Wort, jedoch konnten wir unterschiedlich Sprachen ausmachen. Eines war aber offensichtlich: Niemand in Babylon und gewiss auch bei den sechs anderen Weltwundern der Antike wusste, dass man in einer Schattenwelt gefangen war. Kein Anzeichen für Vermutungen einer parallelen Lichtwelt. Wir hatten das nicht auf der Stirn stehen. Dem Herrn sei Dank. Mein Freund Douglas kam schon beim Anblick der Karren ins Schwitzen.

„Allright“, sagte er nüchtern. „Wir beide sind die Männer in der Mission, wir ziehen jetzt diese Wägen mit Steinen und Wassertrögen. Unsere drei Damen haben jetzt genügend Zeit, in der kleinen Siedlung Zusatzstoffe für das Gift zu ergattern. So wie das geklungen hat, würden sich Nina und Carmen auch damit abfinden, einen gelähmten Nebukadnezar in Atlantis vor Gericht zu zerren. Aber ich denke nicht, dass wir als getarnte Knechte so schnell herausfinden werden, in welchem der Gemächer der Tyrann seine Abende verbringt.“

„Ich frage mich auch, wie Carmen es schaffen will, Nina und Candace als Dienstmädchen in der Küche unterzubringen bei Tausenden, die zur Auswahl stehen“, antwortete ich dem Amerikaner skeptisch.

Ich rieb mir den Wüstensand aus den Augen. Es stürmte ab und an, was die Temperatur in Bruchstücken ein bisschen erträglicher machte. Während ich Pflastersteine an einem von der Dürre ausgetrockneten Gehweg anbrachte, verzweifelte Douglas an einer äußerst primitiven Wasserpumpe. Noch zwei Stunden, bis Nebukadnezar wie jeden Abend von einem der Balkone zu den Sklaven sprechen sollte, wie am nächsten Tag weitergearbeitet wird. Dieser Balkon würde uns verraten, in welchem der zahlreichen Gebäude er sich dann zu später Stunde noch aufhält. Als die nahöstliche Dämmerung einsetzte und ein lauer Wind über die Terassen wehte, konnten wir den süßlichen Duft der unendlich vielen Blumen und Baumblüten riechen. Wie in einem Märchen, wie ein gutes Parfum, setzte sich ein Geruch in unserer Nase fest. Beim Anblick der Hängenden Gärten von Babylon mit dem Plätschern der angelegten Wasserleitungen im Hintergrund und der untergehenden Sonne, die pupur in der umliegenden Wüste versank, wussten wir beide, warum das eines der sieben Weltwunder der Antike ist. Vollendete Schönheit. Doch trotzdem auf dem Leid der Bevölkerung errichtet.

Wir harrten nach der Ansprache eine Weile in einer kleinen Gasse aus und beobachteten von unten die Fenster Nebukadnezars Appartements. Dunkle Schatten irrten in den voll beleuchteten Räumen umher. Seine Bediensteten bereiteten ihm wohl sein ausgiebiges Abendgelage vor. Ein kleineres Fenster ganz rechts am Rande zeigte den Umriss eines Mannes ganz deutlich. Es musste Nebukadnezar sein. Wir waren uns deshalb so sicher, weil uns gesagt wurde, dass der Herrscher ein Faible für imaginäre Schwertkämpfe hatte. Es war nicht zu übersehen, dass die Gestalt dort oben wild einen Degen durch die Luft wirbelte.

„Wenn er sich hier auslebt, schläft er auch hier, Peter“, flüsterte Douglas mir zu.

Daraufhin fertigten wir auf provisorischen Zettelchen einen Lageplan des Regiments für unsere erwartungsvollen Frauen im Versteck an. Wir drehten uns nach allen Seiten um. Im Nachhinein betrachtet schon etwas auffällig. Als wir uns außer Sichtweite und vor den Toren des Prachtbaus befanden, wurde unser Schritt schneller. Wir waren uns sehr sicher, gute Arbeit geleistet zu haben und legten unsere Aufzeichnungen auf den morschen und wackeligen Tisch vor die angestrengt wirkenden Augen Carmens. Sie zog die schlafenden Mädchen an den Armen von den Pritschen im Eck und erklärte ihnen exakt, was am nächsten Tag zu tun sei.

Die zarte Prinzessin und die immer mehr mutige Candace sahen wirklich entzückend aus, als wir nach dem harten Vortag endlich die Augen aufmachten. Jedenfalls waren sie weitaus eleganter gekleidet als Douglas und ich in den schäbigen Arbeiterkutten. Nun erfuhren wir auch, wie einfach alles gehen sollte. Carmen hatte schnell kombiniert, dass die kleine Amerikanerin ein Eau de Toilette aus der Zielsetzung Lichtwelt mitgebracht hatte, das für einen Mensch aus der Gegenwelt einfach nur betörend war.

„Ganz anders wird mir, wenn ich sie rieche, ganz warm wird mir ums Herz“, hatte sie darüber kürzlich noch erwähnt.

„Und auch Nebukadnezar und seinen Helfern wird es nicht anders ergehen. Niemals werden sie darum herumkommen, nur unsere beiden Mädchen als Mägde zu wollen“.

Schlagartig wurde uns Männern jetzt auch klar, dass die Schattenwelt in der antiken Phase der Menschheit eingesperrt war und eine moderne, maschinell produzierte chemische Formel wie die Düfte unserer Epoche für die Menschen in Atlantis und auch hier in Babylon wie ein Phänomen erscheinen musste. Carmen lächelte. Wir lächelten auch. Nur etwas verschmitzter. Unser Cowboy Douglas war schon seit dem Entdecken Nebukadnezars Schlafzimmer siegessicher. So waren sie eben, diese High School Footballspieler.

Der Regen blieb in Babylon seit mehreren Monaten aus. Die drei Frauen marschierten den Berg hinauf zu ersten Trasse der Gärten. Selbst die hart arbeitenden Sklaven auf dem Feld konnten einem kurzen Blick auf unsere Schönheiten nicht widerstehen. Carmen von Atlantis führte die beiden Mädchen an die Pforte des mit Straßen und kleinen Gassen städtisch gestalteten Wohnbereichs, den wir am Tag zuvor aufgezeichnet hatten. Dieser befand sich mittig an einem der obersten Etappen der gesamten Anlage. Auf dem Vorplatz, auf dem der König gestern noch seine üblichen Befehle an die Masse erteilte, fegten vereinzelt Frauen den Sand beiseite und stellten die Bänke wieder in eine vorgesehene Ordnung. In der Nische des Torbogens standen bisweilen erst wenige Bewerberinnen als Dienerin des Königshofes. Dies sollte sich aber schlagartig ändern, als Soldaten die Zugbrücke am unteren Haupteingang der Hängenden Gärten der Semiramis öffneten.

Neben den Arbeitern strömten wie jeden Sonntag hunderte für ihre Verhältnisse herauspolierte junge Damen aus der bettelarmen Siedlung in die Festung, um ihren unterjochten Männern auf den Baustellen ein kleines Zubrot bescheren zu können. Verglich man Nina und Candace mit ihnen, musste man sich bestätigt fühlen, dass unser kleines Team beste Chancen hatte, um jene gnadenlos auszustechen, selbst ohne nordamerikanische Pflegeprodukte.

Es kam schnell dazu, dass bereits vor dem Einlass in die Kammern des Herrscherpaares bereits um die 200 Mägde in Spe wieder nach Hause geschickt wurden. Elitesoldaten übernahmen diese Aufgabe und prügelten hysterische Weiber förmlich aus dem Anwesen hinaus. Mit Sicherheit haben es alle von ihnen jede Woche aufs Neue versucht. Die Verzweiflung und bittere Not löste deren Gefühlsausbrüche aus. Carmen beruhigte ihre beiden Schützlinge, indem sie ihnen wiederholt versprach, dass ihr nur ihr Einzug in die Riege der Dienstmädchen dieses Drama ein für alle mal beenden kann. Als nun mehrere enttäuschter Sklavinnen an den Kleidern Ninas und Candace` zogen, schlug auch die Prinzessin aus Atlantis um sich. Sogleich kamen die Schergen der Semiramis herbei. Es hatte sich schnell alles erledigt. Unseren Damen wurde der Einlass in ein mittelalterliches Casting gewährt.

Lange dauerte es keinen Falls. Zur Verblüffung Carmens saßen keine Boten der Tyrannen in den Kammern. Nein, Semiramis und Nebukadnezar waren persönlich anwesend. Man wollte extrem genau mustern, wer sich anbietet. Carmen hatte sich einen Text zurecht gelegt, der beinhaltete, dass man weder aus der Siedlung noch aus Babylon stamme. Man war freiwillig ins Land gekommen, um das Projekt kennenzulernen und berief sich auf fiktive Unterstützer aus Persien, was Semiramis Augen zum Leuchten brachte. Sie wollte ohnehin die Herrschaft über den heutigen Irak nach Persien auf Kosten des unwissenden Gatten verlagern. Genau betrachtet war Nebukadnezar in beiden Fällen dem Tode geweiht. Wenn seine Frau es nicht schaffen würde, würden wir ihn spätestens in Atlantis nach der Verurteilung hinrichten lassen.

Die ahnungslose Halbgöttin, zu der sie Nebukadnezar durch den Bau machte, witterte in Nina und Candace nun die Chance, Marionetten für ihr Vorhaben zu gewinnen. Wie geplant sollten die beiden noch am selben Abend bei den täglichen Vorbereitungsarbeiten für die gesamte Eliteriege beteiligt sein. Carmen sollte zur Überprüfung im Nebenhaus untergebracht werden, um Fragen über das persische Reich zu beantworten. Es sollte ihre leichteste Übung dieser Mission werden. Atlantis konnte sich gründlich auf diese Art von Gegebenheiten vorbereiten.

Nina hielt ihre Augen besonders offen. Sie huschte durch die Küche und zog Candace sachte am Ärmel ihrer Toga.

„Hast du den kleinen Schrein am Ende des Hauptgangs gesehen, Candace?“

„Nein, ich war bis jetzt nur in den Waschräumen und hier….“

Das Gespräch fand ein schnelles Ende. Eine übergewichtige, etwas ältere Magd verlangte, dass keine privaten Gespräche geführt werden.

„Ihr seid hier schneller draußen als ihr rein kamt, das verspreche ich euch. Wir dulden hier nur absolute Hingabe und Ehrlichkeit.“

Sie hob den rechten Zeigefinger und richtete einen scharfen Gegenstand, ähnlich einem Brieföffner, zur gleichen Zeit mit der linken Hand auf die Mauer. Unsere Mädchen verbeugten sich blitzschnell und gingen in gegensätzliche Richtungen der Arbeitsräume.

Nichtsdestotrotz war Nina´s kurzer Hinweis für Candace ausreichend. Vor der Abzweigung in die Schlafgemächer war eine Art Altar aufgebaut. Der prunkvolle Schrein geriet zur Nebensache. Vielmehr interessierten sich Nina und Candace für die vergoldete Pflanze auf der Kuppel des Miniaturgebildes in diesem Schrein. Trotz Ermahnungen fanden sie noch in derselben Nacht heraus, dass das die in gold gegossene „erste blühende Pflanze“ der hängenden Gärten der Semiramis war. Nichts anderes als dieses kleine Gebilde konnte es sein, welches uns in Atlantis die nächste Tür zum Wunder des Koloss von Rhodos öffnen würde.

Das Abendmahl war gerichtet: Die beiden Dienstmädchen warteten wie von Carmen angeordnet den ersten Gang ab, ob dieser auch wirklich den beiden Zielpersonen ohne Vorkoster serviert wird. Es wurde. Zwar bekamen der Gemahl und deine Frau unterschiedliche Gerichte, aber man konnte davon ausgehen, dass die Hauptspeise ausschließlich ihnen zugeht, zu edel und erlesen war das bereits angerichtete.

„Jetzt oder nie“, dachte sich Prinzessin Nina und kippte, als sie sich unbeobachtet fühlte, die Giftmischung über beide Speisen. Das Fläschchen ließ sie blitzschnell in ihrem Kittel verschwinden. Schon zuvor hatte sie eine der maroden Befliesungen ausgemacht, hinter der sie selbiges vollständig verschwinden lassen würde. In der Ferne Babylons machte sich inzwischen eine eigenartige Stimmung breit, die die Wetterumstände betraf. Das ausgedörrte Land sollte ein Gewitter bekommen, auf welches Regen folgt. Hierzulande ein Segen, eine herbeigesehnte Naturgewalt.

Semiramis` Eitelkeit bestand darin, mehrmals täglich in den Spiegel zu schauen. Das tat sie auch zwischen der Vorspeise und dem Hauptgang. Mit verschwitzen Händen und nervösem Blick standen Nina und Candace in der Nebenkammer des Servierraums, ungesehen und in fast kauernder Haltung. Der Erfolg des Projekts lag nun nicht mehr in ihrer Hand, sondern in der des Schicksals.

Etwas klein geraten und mickrig war der buckelige Greis, der seit Jahren als Einziger dem herrischen Paar direkt deren Mahlzeit servieren durfte. Nebukadnezar saß mit versteinerter Miene seiner Frau gegenüber, als es plötzlich aus ihm herausbrach:

„Dein Bruder ist tot! Warum?“, brüllte er und schlug mit der Faust auf den massiven Tisch. Der alte Hausdiener war just in diesem Moment auf dem Weg zu den Beiden gewesen, um die Vorspeise zu servieren. Er machte automatisch und sofort Kehrt.

Der Tyrann kam in Rage.

„Was hatte der hier zu suchen? Was fällt dir eigentlich ein, ohne mein Wissen in die Kerker zu steigen? Sage mir, was du von ihm wolltest und warum er, statt in Persien zu sein, auf deinen Befehl hin in den Verliesen schmorte? Was wusste er? Ich komme dir auf die Schliche, Weib! Deine Familie ist dein Heiligstes!“

Der König von Babylon riss seinen Becher gefüllt mit Wein empor und schleuderte ihn in ein rundes Seitengewölbe des Saals. Semiramis zuckte zusammen und kippte beinahe nach hinten über. Mit einem schrillen „Hör bitte auf!“ stand sie hastig auf, aber ehe sie reagieren konnte, waren bereits Nebukadnezars heruntergekommener Cousin und einer der Leibwächter an ihrer Seite. Mit roher Gewalt schleiften sie die völlig überrannte Gemahlin auf den Balkon, von dem man aus die gesamten Gärten bewundern konnte. Von dort aus hatte man einen Überblick, was tagsüber geschieht. Der König begann noch lauter zu schreien als zuvor:

„Gebt das Essen den Bediensteten! Mir ist nicht mehr danach!“

Nebukadnezar schlug sich das Knie an der Tischkante an, als er wütend zum Balkon stürmen wollte. Mit lautem Fluchen humpelte er schließlich hinaus. Sein Cousin hatte seine Gattin an den Haaren gepackt und streckte deren Kopf bis weit über die Brüstung. Seinem Gelächter nach schien ihm das sichtlich Spaß zu machen. Semiramis weinte bitterlich und flehte um eine Stellungnahme oder Erklärung. Die babylonische Abendsonne warf ein wunderschönes Licht auf die gesamte Gegend ringsum. Selbst die Dächer der Armensiedlungen leuchteten. Nebukadnezar schnaufte.

„Ich habe Informanten, Weib, weißt du? Und ich kenne dich. Aber wohl nicht gut genug!“

Der schmierige und betrunkene Vetter würgte Semiramis nun dermaßen heftig, dass sie sich übergeben musste. Nebukadnezar schlug daraufhin blindlings mit den Füßen in die Hacken seiner einst über Alles geliebten Frau. Als die Männer von ihr abließen, sackte sie erschöpft zu Boden und röchelte nach Luft.

Nun war die Zeit für Nina und Candace gekommen, um die Gunst der Stunde zu nutzen und wenigstens das Goldblatt zu stehlen. Die Diener des Hauses liefen verstört umher, unbeholfen, planlos und vor allem durch die ganze Situation abgelenkt.

Der Gang mit der Miniatur war leer. Nina hastete dorthin und riss wie in Trance den vermeintlichen Schlüssel nach Rhodos von der Spitze des prunkvollen Gebildes. Die kleine Amerikanerin wartete bereits die Türe aufhaltend am Ausgang. Die Mädchen liefen, was ihre Beine hergaben. Zu ihrem Glück scharte Nebukadnezars Feldherr alle verfügbaren Soldaten des Haupthauses um sich und gab Instruktionen. Unbemerkt schafften sie es aus dem Zirkel des Anwesens. Auf der untersten Terrasse der Gärten streiften sie ihre Kopftücher ab, die als einziger Bestandteil ihrer Kleidung auf Mägde des Königs hinwiesen. Zum gleichen Zeitpunkt saßen Carmen, Douglas und ich in unserer Baracke, noch nichts ahnend. Auf Grund der Tatsache, dass im Laufe des Tages Reiter in der Umgebung der Hütte von uns gesichtet wurden, trauten wir uns keine Kerzen mehr anzuzünden. Unser Versteck sollte uns bis zum Ende der Mission Babylon dienen.

Unser junges Duo brachte die goldene Pflanze herbei. Völlig geschafft legten sich beide auf die ausgebreiteten Felle. Nina fasste für ihre Mutter davor noch die Geschehnisse zusammen.

Ein heftiger Wüstenwind fegte in der Nacht um unsere Behausung. Als alle eingeschlafen waren, spazierte ich kurz in die düstere Nacht hinaus. Sekunden später hatte ich Sand in den Ohren. Die Sterne der Schattenwelt funkelten nicht minder schön als in der Heimat. Die Elendssiedlungen am Stadtrand eher nicht. Nur an der Spitze der Gebäude in der Gartenanlage war noch ein Licht zu erkennen. Vermutlich das Totenlicht der Semiramis, welches vielleicht das Ende der Sklaverei bedeutete.

„Hoffentlich.“, dachte ich mir.

„Aber um das erste Weltwunder der Schattenwelt zu befreien, muss Nebukadnezar sterben. Für das Leben anderer unschuldiger Menschen hier! Habe ich das jetzt laut gesagt?“

„Ja das hast du, Peter.“

Douglas fasste mir von hinten an die Schulter. Die Türe unserer Hütte knirschte. Ansonsten war es still. Der junge Freund konnte ebenso wenig schlafen wie ich. Noch in derselben Nacht stiegen wir in die Dünen. Der Sand tänzelte im Wind um einige ausgedörrte Wurzeln.

„Nehmen wir ihn mit oder bringen wir ihn um?“, wollte Douglas wissen.

Ich schwieg einige Sekunden. Ich musste den Gedanken an einen Mord mit meiner Beihilfe erst verarbeiten.

„Er muss hier sterben! Ich möchte die Sklaven persönlich abziehen sehen in die Freiheit. Carmen auch. Diese Menschen möchten nach Hause. Das Beste für mich wäre es auch, denn ich vermisse meinen Opa. Aber so wie ich ihn kenne, forscht er in Atlantis die Natur aus. Das größte Rätsel seiner Forschungen hat er ja schon gelöst. Sein Enkel wird es vollenden.“

Atlantis` Königin Carmen hatte zwischenzeitlich festgestellt, dass das Pflänzchen aus Edelmetall ohne jeden Zweifel das gesuchte Exemplar ist, das in Atlantis zum Zugang nach Griechenland des Schattens eingefügt werden muss, um das zweite Tor zu öffnen. Die ganze Nacht hatten sie diesen Gegenstand analysiert. In den frühen Morgenstunden offenbarte sie uns auch, warum es in Atlantis der Schlüssel zu den Weltwundern bedarf.

„Es ist die Magie der menschlichen Fantasie, die es in eurer Lichtwelt nicht gibt. Alles was ihr euch ausgedacht habt, diese großartigen Wunder, blühen in der Schattenwelt. Das Mystische, eure Träume und Wünsche, sie leben in der Schattenwelt des achten Weltwunders Atlantis. Dennoch müsst ihr uns endlich befreien. Denn wir sind parallel real. Bosheit und er Egoismus, die für diese Niedertracht verantwortlich sind, haben in der Schattenwelt ihre Spuren hinterlassen. Sie ist ein Jammertal. Peter, glaube mir: Die Lichtwelt ist dies auch. Mein großer Traum, mein Land zu erlösen, ändert vielleicht auch eure Sphäre und vor Allem – Die Fantasie und Grundeinstellung aller Menschen.“

Ein weiterer Schlag mitten ins Gesicht. Partymensch, laut des Vaters der gleiche Spinner wie Großvater. Weltreisender, Entdecker eines Mythos. Was wurde da alles erwartet? Ich fühlte mich wie ein Schmetterling, der aus dem eingesponnenen Kokon einer Raupe entschlüpft ist. Keine andere Entwicklung in der Natur konnte ich dem gleichsetzen, was Candace, Douglas und mir innerhalb kürzester Zeit widerfahren ist.

Der Wendepunkt in den hängenden Gärten der Semiramis kam unerwartet rasch. Am Ende der Woche wurde die mächtige Tochter Persiens beigesetzt. Nebukadnezar hatte komplett aufgeschlüsselt, dass der Plan seiner Angebeteten war, das Land ihrer Familie zukommen zu lassen. Er selbst war zunächst als verschwunden gemeldet. Seine letzten Schergen fanden ihn erhängt an einem Felsvorsprung. Die restlichen Krieger Babylons befanden es nicht mehr für nötig, für Mindestlohn ihre Dienste zu leisten. Zuviel hatte Nebukadnezar auch ihnen angetan.

Der Himmel über Babylon schien, als wolle er sich öffnen, denn unübliche Wolken zogen auf und ein brachiales Gewitter brach herein. Der Auszug aus den Gärten und aller Dörfer glich einer Völkerwanderung. Von einem verlassenen Turm aus, mit Lehm zusammengeschustert, verfolgten Carmen und wir anderen das Geschehen. Wir betrachteten den Sternenhimmel. Ich weiß nicht genau, wie es Forscher heutzutage bezeichnen würden. Als Mitbetrachter sehe ich es als eine Art Verformung, als Angleichung der Konstellation. Ein erster Schritt zur Vereinigung von Licht- und Schattenwelt.

Nina wollte vor der Rückkehr zum achten Weltwunder einen Vergleich ziehen, wer denn von uns hier das Beste geleistet hat. Keiner außer ihr wollte das.

Allein das streben nach solchen Dingen hat nach der Aussage ihrer Mutter zu Missgunst in der Fantasie der Menschen geführt. Viele dieser Faktoren hätten somit die Welt in Licht und Schatten getrennt.

Die Rückkehr nach Atlantis glich einer Parade, eines Triumphzuges. Die kleine Nina ließ es sich nicht entgehen, die vergoldete erste Pflanze des Nebukadnezar nicht irgendwo zu tragen, sondern befestigt auf ihrem Haupt. Ich gönnte ihr jeden Moment der Zuneigung. Nur fehlte der große Initiator der Bewegung in Atlantis:

Mein Großvater Johannes.

Opa „Sternenstaub“, mittlerweile der größte und am meisten belohnte Philosoph dieses Erdballs, wartete an den Eingängen der Weltwunder.

„ Ich habe gewartet, das ist langweilig.“ Ich war erstaunt wie schnell ein Bart wächst im Gesicht eines Mannes.

„Legt die Pflanze in die dazu gehörige Form! Es muss weitergehen. Ihr müsst noch mal weg!“

Johannes hatte mit Sicherheit Recht. Dennoch waren alle Helden in der Stadt. In München hätten wir gewiss den richtigen Spruch für die Eröffnung einer Feier gehabt. In der Wiege der Schattenwelt, in Atlantis, war es bemerkenswert eindrucksvoller. Die fliegenden Inseln der Windsiedler senkten sich, die Parabolspiegel funkelten nicht mehr, sie warfen bunte Muster über das achte Weltwunder.


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