Leo Tolstoi, Vater der Verfolgungsjagd-Szene. (Anna Karenina, Rezension Part II)

Leo Tolstoi, Vater der Verfolgungsjagd-Szene. (Anna Karenina, Rezension Part II) Was haben James Bond, Matrix Reloaded und Tripple X gemeinsam? Richtig,  sie alle müssten eigentlich Lizenz-Gebühren an Leo Tolstoi zahlen.
Habt ihr natürlich auch sofort geantwortet. Sehr gut.
Habt ihr nicht? Achso, na gut. ICH ERKLÄR EUCH DAS DANN MAL!
Alle genannten Filme haben neben dem Fakt, dass ein heißer Typ der Hauptrolle spielt eines gemeinsam:
Die Verfolgungsjagd-Szene
Die Verfolgungsjagd-Szene ist sozusagen das Nonplusultra moderner Spannungselemente. Evtl. nicht für die Zielgruppe dieses Blogs, aber zumindest für Männer, die Actionfilme lieben. Warum? Ganz einfach:
  • es geht um Autos
  • und zwar meist um viele
  • viele hochgetunte, schweineteure Autos
  • es ist laut
  • es ist schnell 
  • es macht Bumm (weil normalerweise mindestens einer der Verfolgungsjagd-Teilnehmer mitsamt seines Wagens lautstark in die Luft fliegt. Kommt ja nun mal immer wieder vor, dass mitten auf der Autobahn schräg geparkte LKWs rumstehen, in die man dann reinkracht. Und wer sich ein bisschen mit Autos auskennt, der weiß, das Autos im Falle eines Zusammenstoßes IMMER innerhalb von 5 Sekunden explodieren.)
  • durch den Kameraschnitt hat man das Gefühl, live dabei zu sein und quasi selbst im Wagen zu sitzen (natürlich in dem, der gerade nicht explodiert.)
Auch Tolstoi wusste um die Dramatik dieses Elements. War ja schließlich auch ein Mann, gell? Was tut man aber, wenn man in einem Zeitalter lebt, in dem Autos für die Allgemeinheit noch gar nicht existieren? 
Ein Königreich für ein Pferd!
Wir kommen zu: Anna Karenina, Buch 2, Kapitel 25: Die Pferderennenszene.
Was für eine Szene! Was heutzutage Meisterregisseure unter Einsatz teuerster Kameras und einer ganzen Horde von Schnittechnikern bewerkstelligen, das erreicht Tolstoi mit Worten. Seine Szene, in der Alexei Wronski an einem gefährlichen Pferderennen teilnimmt und dabei fast draufgeht, ist so spannend, dass mein armer kleine Finger nach dem Lesen ganz blau angelaufen war. (Sobald es spannend wird, fange ich leider an, auf meinen Fingern herumzukauen, ich kann es mir nicht abgewöhnen.)
Die Szene hat alles, was eine richtig gute Verfolgungsjagd-Szene braucht - nur halt 19. Jahrhundert Style!
  • es geht um Pferde
  • 17 Pferde
  • wertvolle, hyperschnelle, extra für diesen Zweck gezüchtete Rennpferde
  • wenn die majestischen Hufe auf dem Boden aufschlagen kommt es zu einem Geräuschpegel, der nur durch die gellenden Anfeuerungsrufe des Publikums übertönt wird (okay, das steht nicht wirklich im Text, aber ich schätze, es ist laut.)
  • es ist schnell (bisschen weniger schnell als in Tripple X, aber das ist bei dem Verhältnis der Pferdestärken auch nicht zu vermeiden. Jeder, der mal auf dem Rücken eines Pferdes im gestreckten Galopp geritten ist, weiß aber, dass Porsche fahren da nicht mithalten kann*.)
*Dieser Satz ist tollkühn geraten, da ich weder das eine noch das andere jemals probiert habe.
  • es macht Bumm. Zumindest für den unglücklichen Herrn Kusowlew, der auf seinem Pferd Diana ein Hindernis reisst. Ich gebe euch jetzt eine kleine Kostprobe von Tolstois Spannungsaufbautechnik à la Pferderennen. Die für uns wichtige Aufstellung ist hier folgende: 
1. Wronski auf Frou Frou 2. Machotin auf Gladiator 3. Kusowlew auf Diana
LOS!
"Die Zuschauer hatten de Eindruck gehabt, dass sie alle zugleich losgeritten waren; die Reiter aber waren sich des Sekunden betragenden Zeitunterschiedes bewußt, der für sie große Wichtigkeit hatte. 
Die aufgeregte und gar zu nervöse Frou Frou hatte den ersten Augenblick verpasst und mehrere Pferde hatten gleich vom Start an einen Vorsprung vor ihr; aber noch ehe sie das Flüßchen erreicht hatten, überholte Wronski, der mit aller Kraft das sich in  die Zügel legende Pferd zurückhielt, mit Leichtigkeit drei seiner Vordermänner. (...) In den ersten Augenblicken hatte Wronski weder sich noch sein Pferd in der Gewalt. Bis zum ersten Hindernisse, dem Flüßchen, war er nicht imstande die Bewegungen seines Pferdes zu bestimmen. 
Gladiator und Diana kamen zusammen dort an; fast im gleichen Augenblick richteten sie sich an dem Flüßchen auf und flogen nach der anderen Seite hinüber; sanft und unmerklich, als wenn sie flöge, schwang sich hinter ihnen Frou Frou in die Höhe; aber in demselben Augenblicke da Wronski sich in der Luft fühlte, erblickte er plötzlich, fast unter den Füßen Frou Frous, Kusowlew, der sich mit seiner Diana am anderen Ufer des Flüßchens auf dem Boden wälzte. Kusowlew hatte nach dem Sprunge die Zügel fahren lassen und das Pferd hatte sich mit ihm überschlagen. Diese Einzelheiten erfuhr Wronski später; jetzt sah er nur, daß gerade unter Frou Frous Füßen, da wo sie hintreten mußte, ein Bein oder der Kopf von Diana zu liegen kommen mußte.
Aber Frou Frou machte wie eine fallende Katze während des Sprungs eine kräftige Bewegung mit den Beinen und dem Rücken, wodurch sie einen Zusammenstoß mit dem anderen Pferde vermied und jagte weiter. "O du mein liebes Tierchen!" dachte Wronski."

  • Wenn ihr da jetzt nicht das Gefühl hattet, ihr wäret live dabei, kann ich euch auch nicht helfen. Ich habe an dieser Stelle schon Blut und Wasser geschwitzt und, wie von Tolstoi beabsichtigt, Wronskis Stute Frou Frou ins Herz geschlossen. Die Stute hat ihm schließlich wahrscheinlich gerade das Leben gerettet. Wronski dankt es ihr auf eine Weise, die für den Rest des Buches das Gefühl des Lesers zu seinem Charakter bestimmt. Die letzte Szene des Rennens ist hochspannend und ich würde sie gerne hier aufschreiben, aber da sie zu den für mich beeindruckendsten Szenen des ganzen Buches gehört, kann ich hier nicht spoilern. Es reicht zu sagen, dass sich damit meine Einstellung zu Wronski zementiert hat, dem ich von Anfang an misstrauisch gegenüber stand.  
Fazit: Wenn ihr euch auch sonst nicht an Tolstoi herantraut, oder keine Lust habt, Anna Karenina zu lesen: Diese Szene solltet ihr zumindest mal anlesen, es lohnt sich.
Ps: Den ersten Teil der Rezension zu Anna Karenina findet ihr hier.

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