Im Frühling 1966 vertraute Lila mir in höchster Aufregung eine Blechschachtel mit acht Schreibheften an. Sie sagte, sie könne sie nicht länger zu Hause behalten, sie fürchte, ihr Mann könne sie lesen, … zu jener Zeit stand es denkbar schlecht um unsere Freundschaft, doch offenbar sah nur ich das so …
Und obwohl sie schwört, die Schachtel niemals zu öffnen, löst Lenù, kaum dass sie im Zug sitzt, die Schnur. Sie liest alles und schmeißt die Schachtel später samt Inhalt in den Arno in Pisa, wo sie studiert. Wow! Was für ein Start. Ein Start, der symptomatisch für die Freundschaft der beiden Mädchen ist. Niemals selbstverständlich, niemals vorhersehbar. Das Thema dieser Freundschaft mit diversen Überraschungen bestimmt auch diesen Roman. Wie schon im ersten Teil beschreibt Ferrante aber auch diesmal wieder detailliert das mächtige Getriebe aus Intrigen und mafiösen Geschehnissen, denen im engen Umfeld des Rione einfach nicht zu entkommen ist. Ich spüre, wie fremd mir das Frauenbild im Italien der Sechziger Jahre doch ist! Eine endlose Spirale der Erniedrigung von Ehefrauen und Geliebten. Wo Kinder miterleben müssen, wie die eigenen Mütter von den Vätern geschlagen werden:
Wir waren mit der Vorstellung aufgewachsen, dass ein Fremder uns keinesfalls anrühren durfte, dass aber unser Vater, unser Verlobter, unser Ehemann uns ohrfeigen durfte,wann immer er wollte, aus Liebe, um uns zu erziehen und uns zu bessern (S. 64).
Ob es schwer ist, der Story zu folgen? Niemals! Elegant und gelassen erinnert Ferrante in vielen Passagen an frühere Ereignisse, verknüpft diese mit aktuellen Situationen. Das fühlt sich beim Lesen an wie ein vielfarbiges Mosaik, dessen Muster noch nicht vollendet ist, das in seinen Konturen aber klar ist.
Lenù hat sich zu einer reifen jungen Frau entwickelt, die sich selbst und ihre Taten oft hinterfragt. So kühl und besonnen wächst sie mir in dieser Geschichte jetzt sehr ans Herz. Sie ist ganz anders als ihre Freundin Lila, die oft überraschend und sehr emotional reagiert – und die ich deshalb auch sehr mag. Denn während Lenù als stille Beobachterin und Chronistin der Geschichte sich oft gut beherrschen kann, geht Lila hindurch wie mit einem flammenden Schwert und hinterlässt überall brennendes zerstörtes Gebiet. Für mich sieht sie aus wie eine wütende und wunderschöne Gina Lollobrigida oder Audrey Hepburn. Wie schon der erste, so endet auch dieser zweite Teil natürlich mit einem enormen Cliffhanger – mit einer Situation in einer Buchhandlung, die mein Herz für einen kurzen Moment aussetzen und das Buch glücklich zuschlagen lässt.
Darüber und über ein paar andere Ferrante-Themen spreche ich hier -> Interview mit dem Suhrkamp Verlag
Elenea Ferrante. Die Geschichte eines neuen Namens – Band 2 der Neapolitanischen Saga (Jugendzeit). Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag GmbH & Co. Berlin 2017. 624 Seiten. 25 €