Lena Gorelik. Null bis unendlich

Zerpenschleuse 1 Adieu, sweet summer … wie werde ich dich vermissen. Und auch dies: mit einem Buch am Wasser zu sitzen und zu lesen.

Sanela aus Lena Goreliks neuem Roman liebt das Wasser ebenso, ganz besonders aber liebt sie das Meer, denn sie ist an der Adria aufgewachsen. Das Meer bedeutet für sie Freiheit. Das Meer ist manchmal und besonders im Herbst und im Winter herrlich wütend, so wie Sanela selbst.  Als sie noch nicht so gut Deutsch spricht, schreibt sie auf einen kleinen Zettel für Nils, ihren Sitznachbarn in der Schule: “Ich mechte mer am Mer sein”. Das berührt mich. Und es berührt mich auch, dass Nils sie in diesem Moment nicht korrigiert, dass er schweigend und verständnisvoll dieses kleine Bekenntnis annimmt. GorelikDenn eigentlich soll er ihr in der Schule bei der Eingewöhnung und Integration helfen. Sie ist ein Flüchtlingskind aus Bosnien. Die Lehrerin sagt bei Sanelas Vorstellung zur Schulklasse, sie käme aus Jugoslawien und das ärgert Nils wahnsinnig. Jeder weiß, dass Jugoslawien dabei ist, auseinanderzufallen! Es gibt jetzt Kroatien, Slowenien und eben auch Bosnien! Schnell entdecke ich – beide Kinder sind anders, extrem sensibel und sehr zurückhaltend im Umgang mit Anderen. Nils ist außerdem hochbegabt. Sanela ist Kriegswaise. Auf eine ganz außergewöhnliche Weise mögen sie sich. Sie lernen gegenseitig ihre Sprachen. Das ist manchmal komisch und oft tieftraurig. Es erinnert mich an das alte Lied von den zwei Königskindern, die einander so lieb hatten, doch zusammen nicht kommen konnten, weil das Wasser zwischen ihnen zu tief war. Und so sind auch Sanela und Nils sich  in ihrer distanzierten Art als Kinder im Herzen sehr nah –

Dann verlieren sich ihre Wege. Sie werden erwachsen, machen Erfahrungen unterschiedlichster Art. Jahre später hat Sanela einen Sohn ohne Vater. Sie erinnert sich an Nils und schreibt ihm einen Brief. Beide begegnen sich neu, aber gewohnt distanziert. Kann Sanela wirklich tief und echt lieben, frage ich mich? Sie liebt so vieles an Nils, dass er beispielsweise ihre Gedanken aussprechen kann, dass er von ihr begonnene  Sätze beenden kann. Sie schläft mit ihm. Aber ist das Liebe? Möglicherweise. Und wer sagt denn, dass sich Liebe in ewigen Bekenntnissen zeigen muss? Und wo gibt es das überhaupt – dass die positiven Gefühle ewig währen? Nils muss lernen, Sanelas Stimmungen und Wutausbrüche auszuhalten. Wen er sofort mag, das ist der kleine Niels-Tito.

Jetzt liegt Sanela neben Nils Liebe. Auf der Seite, genau wie er. Sie berühren sich nicht und vermeiden ausnahmsweise für ein paar Minuten nicht angestrengt den Augenkontakt. Sie reden über Niels-Tito. Wenn sie über den Jungen reden, dürfen sie sich anschauen. Eine dieser Regeln. Sie haben so viele, haben nie eine ausgesprochen, vergessen keine davon (S. 184).

Eine der Regeln Sanelas ist, Nils nicht zu sagen, wie sehr krank sie ist. Und dass er in ihren Augen der einzige Mann ist, der für den kleinen Niels-Tito als neuer Vater in Frage kommt, damit dieser nicht auch als Waise aufwachsen muss. Nur darum holt sie Nils Liebe in ihr Leben zurück. Weil sie ihren Jungen so liebt. Ihn und nur ihn liebt sie! Bei Männern geht ihr das eben anders, dieses Gefühl mit der Liebe. An die große Liebe mit Männern kann Sanela einfach nicht glauben –

Gorelik_Null_bis_unendlich“Null bis unendlich” ist ein harter Roman, aber auch schön. Mit sehr klaren und geraden Sätzen, die keine Wahrheit scheuen. Lena Gorelik erzählt mit eindringlichem Ton, der einen Weg direkt in mein Herz findet. Es ist spannend, drei so sperrige und ganz besondere  Charaktere zu begleiten, die sich einfach nicht anpassen. Nils und Niels-Tito sind ein herzerfrischendes Duo. Gorelik beweist mit ihrer Geschichte, dass es stärkere Bindungen geben kann, als die der eigenen Familie. Ist doch völlig egal, wo man herkommt. Wenn zwei Seelen sich finden, kann ein Mann plötzlich Vater und ein Junge überraschend ein Sohn sein. Womit ich mich bis zum Ende der Geschichte nicht anfreunden kann, das sind die Namen der beiden Figuren Nils Liebe und Niels-Tito. Wie oft bin ich bei beiden Namen im Text gestolpert. Mit dem Namen Sanela freunde ich mich an, als ich nachlese, dass das Wort San im Serbo-Kroatischen für Traum und im Slawischen für Träumerei steht. Im Lateinischen steht sana oder sanus außerdem für gesund. Wie sehr ich Sanela gewünscht habe, dass sich ihr Traum von einem gesunden Leben erfüllen möge, so glücklich bin ich mit dem Bild von Nils und dem kleinen Niels-Tito. Für mich sitzen beide irgendwo am Meer, ohne dabei ein einziges überflüssiges Wort zu reden oder sich zu berühren. Gemeinsam schauen sie auf die untergehende Sonne hinter einem unendlich weit entfernten Horizont.

Lena Gorelik. Null bis unendlich. Rowohlt Berlin 2015. 297 Seiten. 19,95 €



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