Lektionen aus dem Berliner Volksentscheid

Von Oeffingerfreidenker
Der Berliner Volksentscheid über den Rückkauf des Stromnetzes von Vattenfall ist knapp gescheitert. Nicht, weil eine Mehrheit dagegen gewesen wäre - die Zustimmungsrate lag bei 83% - sondern weil das erforderliche Qurom von 25% Ja-Stimmen unter allen Wahlbeteiligten um 0,9% knapp verfehlt wurde. Die taz sieht darin eine Niederlage für die Demokratie: "Das knappe Scheitern wird die Debatte um die Höhe des Quorums wiederbeleben. Ist es gerecht, wenn mehr als 80 Prozent für etwas stimmen, aber dennoch scheitern? Wenn eine Mehrheit keine Mehrheit mehr ist? Ehrlicher wäre es, wenn das Quorum ganz wegfiele und es bei einem Volksentscheid nicht um die beste Taktik ginge, sondern schlicht um die besten Argumente." Das halte ich, mit Verlaub, für Unsinn.
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Bert Schulz, der Autor des Artikels, wirft in diesem Satz die Prozentangaben und die Definition von Mehrheit fröhlich durcheinander. Ob es gerecht ist, wenn 80% für etwas stimmen, aber dennoch scheitern? Klar kann das gerecht sein. Wenn vier Leute dafür stimmen, einen fünften zu essen, dann hat das nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Das war hier zwar nicht der Fall, nur Schulz' Argumentation läuft völlig ins Leere. Das Qurom ist sinnvoll. Auf der einen Seite bejammert man stets die mangelnde demokratische Legitimierung der (ungeliebten) Merkelregierungen, auf der anderen Seite aber erklärt man dann beim Scheitern des Quroms flugs das genaue Gegenteil für undemokratisch. Volksabstimmungen haben, das hat die Abstimmung in Hamburg zum Schulsystem hinreichend bewiesen, einen starken Klassencharakter. Sie sind das Instrument eines gutverdienenden Bürgertums. Die linke Begeisterung für das Plebiszit lässt sich nicht nachvollziehen. Nirgendwo sonst als beim Volksentscheid ist bei einer Wahlentscheidung das Informations- und Mobilisierungsgefälle so groß. Nirgendwo sonst sind die sozialen Schichten so deutlich erkennbar, bestimmen so sehr bereits die Entscheidung, am Wahlgang teilzunehmen. Dazu kommt, dass sie eine stärkere Polarisierungswirkung als normale Repräsentativwahlen haben. Es macht nur wenig Sinn, den Volksentscheid als Instrument zu verwenden, wenn die Verlierer danach nicht bereit sind, das Ergebnis anzuerkennen. Dies ist besonders am Beispiel Stuttgart21 deutlich geworden, wo die Bahnhofsgegner beim ersten Anzeichen der drohenden Niederlage eine Unmenge von Dolchstoßlegenden schufen, um das Ergebnis zu delegitimieren. Noch heute gibt es Mahnwachen in Stuttgart. Und die besten Argumente? Seriously? Was bei Volksentscheiden zählt ist Mobilisierung. Die Seite, die mehr ihrer Unterstützer mobilisieren kann, siegt. Diese Mobilisierung muss außerdem jedes Mal erfolgen. Möchte ich etwa eine Politik, die das Los der Armen verbessern soll, kann ich in einem repräsentativen System einen Politiker meines Vertrauens wählen, damit diese Anliegen Gehör (und gegebenenfalls Umsetzung) finden. Bei Volksentscheiden dagegen sieht die Sache bereits wieder völlig anders aus. Eine entschlossene, gut mobilisierte Minderheit kann ihre Anliegen gegen eine eher desinteressierte, aber grundsätzlich ablehnende Mehrheit gut durchdrücken. Warum bei Volksentscheiden plötzlich als Höhepunkt der Demokratie gilt, was bei Merkels Politikstil mal als Politikverachtung, mal als assymetrische Demobilisierung, mal als perfide Taktik gebrandmarkt wird, erschließt sich überhaupt nicht. Allzuoft sehen die Befürworter von Volksentscheiden diese auch als probates Mittel, um ihre Anliegen gegen eine parlamentarische Mehrheit durchzubringen. Diese Ansicht ist besonders auf der Linken stark verbreitet. Gerne übersehen wird dabei, dass dasselbe Mittel auch den Rechten offensteht. Die Initiative "ProReli" in Berlin, die Steuergesetzgebunden Kaliforniens oder das Minarettverbot in der Schweiz sollten uns mahnende Beispiele sein. Nicht ohne Grund verlangen Rechtspopulisten beständig nach Volksentscheiden. Sie haben einen wesentlich realistischeren Blick auf ihre Wirkungsweise als es die Progressiven haben.