Leinen los! 85. Herbstausstellung niedersächsischer Künstler in Hannover, Juni-August 2010
Da war ich aber froh, dass ich so lange durchgehalten hatte - bis zum Schluss, bis zum Kunstverein Langenhagen am Ende der Besichtigungsreise durch alle Ausstellungsorte. Denn dort entdeckte ich, was mich am meisten faszinierte; ein getupftes Wandbild, gar nicht einmal in kräftigen Farben, keine spektakuläre Form, mit dem merkwürdigen Titel "Vanish oder verschwinde" - und verschwinden wird es tatsächlich nach der Ausstellung - und einer noch merkwürdigeren Angabe zur Technik: "Sportplatzabrieb auf weißer Wand". Letzteres aber bringt auf die Spur dessen, was dieses Kunstwerk so besonders interessant macht - es gehört zu den Werken, die man erst versteht und (womöglich) schätzen lernt, wenn man über ihren Hintergrund informiert ist. Das Wandbild von Katharina Kamph (geb. 1983 in Hamburg) ist tatsächlich durch den wiederholten Wurf eines eingefärbten Balls an die Wand entstanden; es ist Ergebnis einer dynamischen, von Schnaufen und wütenden Schreien begleiteten Aktion oder (meinetwegen) "Performance".
Die Dynamik dieses Bildes wird noch dadurch gesteigert, dass die dargestellte Form die Fantasie des Betrachters - wiederum, sofern er entsprechend informiert ist - in Bewegung zu bringen vermag. Denn es handelt sich um eine Art Bastelbogen oder Schnittmuster, aus dem man, wenn es nicht nur ein Ballabriebbild wäre, einen räumlichen Körper (einen Kubus, ein Tetraeder?) herstellen könnte. So muss der Zuschauer in seiner Fantasie die Raumfigur zu Ende gestalten. Derartige räumliche Werke hat Katharina Kamph andere Male tatsächlich angefertigt, so berichtet Ursula Schöndeling, die Leiterin des Kunstvereins. Die Künstlerin, so scheint es, verbindet gerne verschiedene Ausdrucksmittel, arbeitet zwischen den Kategorien. "Eine Spannung wird erzeugt, die zwischen Gewalt und Zartheit oszilliert" - so wird es im Katalog formuliert.
Jetzt habe ich mich aber viel zu lange mit einer Künstlerin beschäftigt - dabei sind es insgesamt 68 KünstlerInnen, die von einer Jury aus 331 Bewerbern ausgewählt wurden und deren Werkbeispiele jetzt an fünf Orten gezeigt werden: im Kunstverein Hannover, im Kubus, in der Galerie vom Zufall und vom Glück, in der Galerie der Nord/LB und eben im Kunstverein Langenhagen.
Bringen Sie bei einer Besichtigung viel Zeit mit, mit Pausen dazwischen, dann haben Sie am meisten davon. Jeden Sonntag gibt es Kurzführungen - es beginnt mit der Nord/LB art gallery um 13 Uhr, 14 Uhr im Kubus, 15 Uhr im Kunstverein Hannover, 16 Uhr im Kunstverein Langenhagen. Sonntags ist der Eintritt in allen beteiligten Institutionen frei. Nutzen sollte man auch die Talking Labels (sprechende Titelschilder), jene wunderbare Einrichtung des Kunstvereins: Da gibt es einige leibhaftige nette Menschen, die für Gespräche und Fragen zu den Arbeiten zur Verfügung stehen: an den Sonntagen zwischen 16 und 17 Uhr.
Bei der Fülle des "Materials" kann ich hier nur lose aneinander gereiht einige weitere Eindrücke vermitteln (eine kleine persönliche Auswahl). Also: Leinen los! Die Fahrt beginnt ...
Tritt man in den ersten Raum des Kunstvereins Hannover, muss man direkt aufpassen, wohin man tritt - doch wohl nicht auf den großen Flickenteppich, er ist schließlich ein Kunstwerk? Michael Beutler (geb. 1976 in Oldenburg) hat den überdimensionalen Flickenteppich - 5,20 x 22 m - auf einem eigens dafür hergestellten Riesen-Webstuhl angefertigt. Es kommt mir vor wie ein Spiel zwischen dem Gebrauchszweck und der Zweckfreiheit des Kunstwerks. Die künstlerische Arbeit beginnt schon mit der Herstellung des Arbeitsgerätes. Das fertige Produkt - flach ausgebreitet könnte es den Boden vor dreckigen Schuhen schützen - wird von seinem Zweck entfremdet und durch die dreidimensionale Gestaltung (Faltenwürfe), die zudem noch ständig verändert werden könnte, in ein optisch erfassbares skulpturales Kunstwerk verwandelt, das nicht betreten werden darf. Dass dieses plastische Werk keine feste Gestalt hat, belegt auch mein eigenes Foto aus der gegenwärtigen Ausstellung, das ein anderes Aussehen zeigt.
Polar dem entgegen steht die Installation der Franziska Carolina Metzger (geb. 1980 in München), weil sie einen (eher dusteren) begehbaren Innenraum schafft (in der Galerie vom Zufall und vom Glück).
Die "Pfälzer Hütte" vermittelt die geheimnisvolle bis gruselige Seite einer dörflich-ländlichen Idylle oder Scheinidylle. Setzt man sich in die Hütte aus rauen, dunkel gestrichenen Latten, wird man den seltsamsten Bildern und Tönen ausgesetzt. Der einzige Lichtblick, ein Video aus Landschaftsaufnahmen, gemurmelten Sätzen und derben Ausbrüchen hinterlässt einen irrlichternden, nicht aufzulösenden Eindruck. "Franziska Metzger schreibt, komponiert, verschränkt Naturschauplätze, Alltagsszenen und poetische Orte, verdichtet ihre magisch fesselnden Geschichten in medialer Vielfalt. Wie alle gute Poesie trägt ihre Kunst zwischen komplexer Klarheit das Unergründliche" (Rainer Beßling im Katalog).
Sehr beeindruckt und zugleich amüsiert hat mich auch die auf großer Leinwand von drei Projektoren parallel gezeigte Videoarbeit "Silberwald" von Christoph Girardet (geb. 1966 in Langenhagen!), der den Kunstpreis der Sparkasse 2010 bekommen hat. Girardet hat aus 70 Heimatfilmen der 1950er Jahre Szenen zusammengeschnitten und persifliert und entlarvt sie damit - es ist schon unglaublich, welche Gleichförmigkeit damals geherrscht hat, wie immer wieder ähnliche Szenen klischeehaft fabriziert wurden. Zum Beispiel hebt auf allen drei Bildern immer wieder "der Wilderer" das Gewehr, um zu Schuss zu kommen. Und Gewitterszenen sind natürlich obligatorisch.
Zu den seltsamsten Beiträgen gehören sicherlich Prozesse und Ergebnisse des Küchen- und Kochkünstlers Dieter Froelich (geb. 1959 in Walsrode) mit seiner "Restauration a.a.O.". Er hält während der Ausstellung auch einen Vortrag und richtet zwei Gastmahle aus, Thema: "Die Archetypen der Speisen unter besonderer Berücksichtigung der Gemengsel und Gehäcksel" (im Kunstverein Hannover).
Wie ungemein vielfältig die Ausdrucksmöglichkeiten der Künstler doch heute sind! In den feinen und präzisen Bleistiftzeichnungen der Julia Schmid (geb. 1969 in Wuppertal) - die übrigens auf Plakat und Katalogtitel verwendet sind - werden die Bildgegenstände so verrätselt, dass es unser Bildgestaltsehen irritiert, zugleich aber neu aktiviert. Verstrickt in ein Gewirr von Linien müssen wir durch alle Geheimnisse und Gefahren der Verzauberung hindurch neu sehen lernen (im Kunstverein Hannover).
Wie viel davon ist Kunst, wie viel nachgebaute Wirklichkeit? kann man sich fragen, wenn man das "Organisierte Chaos" sieht, das Bye Mass Jobe (geb 1960 in Banjul, Gambia) vorstellt: das spielzeugartige Modell eines Teils seiner Heimatstadt (in der Galerie vom Zufall und vom Glück). "Mit der aktuellen anarchischen Wirklichkeit der Stadt hat das idyllisch geordnete Ensemble indes wenig zu tun", schreibt Michael Stoeber im Katalog. "Und doch macht seine Form deutlich, wie die Stadt geworden ist, was sie heute ist."
Abschließen möchte ich mit einer Installationsansicht aus der Galerie Kubus, bei der hauptsächlich Markus Zimmermanns (geb. 1978 in Hannover) "Archiv" zu sehen ist.
Auf einem Gestell sind zahlreiche Guckkästen aufgebaut, in denen man fremdartige Landschaften und Bilderwelten entdecken kann, die aus simplen Materialien wie Schaumstoff, Kunststoffverpackungen oder Kunstrasen gestaltet sind.
Leinen los? Aufbruch in eine neue Gegenwart mit einheitlicher Stoßrichtung? Nein, nicht wirklich. Eher "Im Netz der verwirrenden Facetten - niedersächsisch" eben.
Die Besichtigung dieser vielfachen Einblicke in die Gegenwartskunst möchte ich dringend empfehlen - es macht auch Spaß! Bis zum 15. August 2010 ist noch Gelegenheit dazu.
Weitere detaillierte Informationen bietet der Kunstverein Hannover im Netz (PDF-Datei).
© Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; die Bilder von oben nach unten: Katharina
Kamph: Vanish
oder verschwinde, 2009, Sportplatzabrieb
auf weißer Wand, Größe
52, 156x 400 cm; Ausstellungsansicht
Kunstverein Hannover - vorne:
Michael
Beutler:
Carpet, 2009, verschiedene Textilien 5,20 x
22 m, Courtesy
Galerie Franco Soffiantino
Arte Contemporanea, Turin; rechts:
Ralf
Tekaat:
Die
Sonne geht im Westen auf, 2007/2008, Installation, Mixed Media, Maße
variabel; links:
Christoph
Faulhaber:
ICH
wie es wirklich war. Ein Bericht aus New York., 2008/2009,
Installation aus Papierkopien, 240 x 240 cm und
4-Kanal-Videoprojektion; hinten:
Michael
Botor:
Nowa, 2009, Lack auf Dibond, 250x450
cm, Foto:
Raimund Zakowski; nochmals "Carpet" von Michael Beutler, eigenes Foto (Helge Mücke, Hannover); Franziska
Carolina Metzger: Pfälzer
Hütte, 2008, Installation
mit Video, 200
x 160 x 130 c, Video
12‘ Loop; Dieter Froelich: Restauration a.a.O. - zwei eigene Fotos (Helge Mücke, Hannover); auf dem unteren Foto sind der Künstler und die Kuratorin (Ute Stuffer) zu sehen; Julia
Schmid: Hybride,
2009–2010, Bleistift auf Hartfaserplatte, Serie von 6
Zeichnungen, je
40 x 60 cm; Bye Mass Jobe: Organisiertes Chaos, 2009, eigenes Foto (Helge Mücke, Hannover); Ausstellungsansicht
Städtische Galerie KUBUS - vorne Markus
Zimmermann:
Archiv 2009, Installation aus Steckregal, Pappe, Klebeband,
Kunststoff und Holz, 180
x 300 x 400 cm, rechts Benjamin
Badock:
Hannover Lange Gasse I, 2010, Holzschnitte, 9-teilig, je
106 x 76 cm, Foto:
Raimund Zakowski.
Alle Bilder, die nicht von mir stammen, wurden von der Pressestelle des Kunstvereins Hannover zur Verfügung gestellt - sie sind nicht frei verfügbar.