Leidkultur

Ende des letzten Jahrtausends erfand der deutsch-syrische Politikwissenschaftler Bassam Tibi die europäische „Leitkultur“. Er fand, dass Europa bestimmte Werte teilt, wie Demokratie, Laizismus, Menschenrechte, Aufklärung bzw.  die Zivilgesellschaft. Das, was wir in Deutschland unter „freiheitlich-demokratischer Grundordnung“ verstehen. Sofort stürzten sich die Medien auf den Begriff und kurz danach die Politik. Die Schlacht um die Deutung dessen, was „wir“ sind und was die „Anderen“ hatte begonnen.

Man kann Herrn Tibi ruhig attestieren, dass er eine Nase für Wörter hat, die sexy sind. „Leitkultur“ rollt einem Politiker nur so von der Zunge, während „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ sich anhört wie dicke Hornbrillen oder SED-Parteitag. Nur der Soziologe Ferdinand Tönnies wird gestutzt haben, der inhaltlich das, was Leitkultur umfasst schon in den 30er Jahren als „Moderne“ definierte. Aber der ist ja tot.

Nun ist die „Moderne“, als Epoche der Vernunft alles andere als unangreifbar. Ich erspare euch die Schlachten zwischen Modernisten, Postmodernisten und der Gegenaufklärung. Man muss aber festhalten, dass sie „gewonnen“ hat und dass bei allen Problemen die Werte der Moderne und der Aufklärung für den längsten Frieden in Europa gesorgt haben. Ever!

Warum hat man außerhalb der esoterischeren akademischen Kreise kaum etwas davon mitbekommen, dass wir als Europäer eine große Kulturleistung teilen? Weil die Zeit noch nicht gekommen war. Ende der 90er Jahre war die Globalisierung noch nicht so richtig in Fahrt gekommen, es gab den Euro als sichtbarstes Zeichen der Moderne noch nicht und das Feindbild „Kommunismus“ war noch nicht durch „Islamismus“ ersetzt. Das „Boot“ war noch „voll“, „Deutschland“ sollte den „Deutschen“ gehören oder, wie es die anderen sagten, „nie wieder Deutschland“ und zur Hölle mit den Prädikaten. Deswegen war wohl die Debatte um eine „deutsche Leitkultur“, die der Moped-Rowdy Friedrich Merz im Jahr 2000 entfachte auch kein langes Leben vergönnt. Was Deutschland so nötig hatte wie eine Oktoberrevolution, war eine Debatte, die den Faschisten in die Hände spielt.

Unsere große gemeinsame Kultur entdeckten bestimmte Politiker und dann deren Anhänger in der Zeit nach dem Fall der WTC-Türme. Zwar kam die „deutsche Leitkultur“ noch ein paar mal aus der Mottenkiste, vor allem bei den Intregrations- und Zuwanderungsdebatten, Aber wenn das Abendland in so akuter Gefahrt schwebt (mal wieder), müssen sich die aufrechten Europäer von Den Haag bis Budapest bis Berlin-Mitte.

Worte sind die Bausteine der Wirklichkeit. Was in „Leitkultur“ mitschwingt ist natürlich „leiten“. Führen. Die Leitkultur ist der Boss, der Anführer. Und Kultur ist alles Positive was „wir“ (ein entsetzlich schwammiges „Wir“, in etwa wie „Wir sind Papst“ oder „Wir sind Dritte bei der WM“) je gemacht haben. Leitkultur macht uns, zu den Chefs, die „anderen“ werden geleitet, haben sich anzupassen.
Wer sind „wir“? Na, alle die sich zu den Werten der europäischen Kultur bekennen. Und keine Moslems sind. Denn Moslems, wie wir ja heute wissen, können keine Demokratie, keinen Laizismus, keine Menschenrechte, keine Aufklärung und keine Zivilgesellschaft. Wie Herr Sarrazin festgestellt und so wunderschön mangelhaft „belegt“ hat, sind Moslems viel zu dumm dafür. Und hört mir auf mit der Türkei, die verstellen sich nur. Und die Araber, die gegen ihre vom Westen gestützten Unterdrücker aufstehen (aufrechte Verteidiger der Werte Rousseaus allesamt) sind potenziell islamistische Terroristen.

Wenn man genau hinschaut, dann ist die „europäische Wertegemeinschaft“ genau so eine Chimäre wie der „Islam“. Verzeihung, man muss nicht mal genau hinsehen. In Wirklichkeit ist allein der Gedanke absurd. Ebenso wie eine x-beliebige Religion oder Ideologie sind die Werte natürlich hehr. Aber ein Realitätscheck sollte einen intelligenten Menschen sofort auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Italien? Ungarn? Demokratie? Irland? Laizismus? Grenzpolitik? Menschenrechte? Oder was hat die deutsche Bildungspolitik mit den Werten der Aufklärung zu tun?

Die Gefahr der „Leitkulturdebatte“ ist eben ihre Schwammigkeit. So hat der Verfassungsrechtler Ulrich K. Preuß festgestellt, dass die Idee der „Wertegemeinschaft“ die Rechtssicherheit aller Menschen untergrabe, die nicht mehr aufgrund der Staatsbürgerschaft, sondern aufgrund verschwommener „kultureller Zugehörigkeit“ gewährleistet werden könnte. Der eigentliche Skandal der Leitkulturdebatte, so Preuß, sei dass nicht mehr das Grundgesetz den Rechtsrahmen bilde, sondern eine imaginäre Wertegemeinschaft.

Da wird dann schnell mal das „christlich-jüdische“ Wertesystem herangezogen, dass sich vollkommen von anderen, implizit oder explizit islamisch je nach Schamgrenze des Senders, unterscheidet. Darüber wurde schon viel geschrieben. Mit bleibt festzuhalten, dass damit eine der großen Errungenschaften der Moderne, bzw. der europäischen Kultur ausgehebelt wird, nämlich die Unabhängigkeit politischer Diskurse von religiösen.

Überhaupt reißen die „Verteidiger des Abendlandes“ mit Wollust ein, wofür sie behaupten zu stehen. Religionsfreiheit? Sicher, aber nicht für Muslime. Menschenwürde? Im Prinzip schon. Flüchtlinge sind aber irgendwie noch keine, oder? Gleiches Recht für alle? Nur, wenn „alle“ die richtige Hautfarbe, Staatsangehörigkeit oder Religion haben. Der Rest, na ja, ist ungleicher.

Wird fortgesetzt mit „Kulturalimus“



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