“Neues Deutschland”, 03.08.2012
Soziale Ungleichheit in den Vereinigten Staaten nimmt neofeudale Züge an
Die Kluft zwischen Arm und Reich hat in den USA gerade in der schweren Wirtschaftskrise weiter zugenommen. Das geht aus der Einkommens- wie auch der Vermögensstatistik hervor.
Amerika diskutiert derzeit die immer schroffer hervortretenden Klassengegensätze. Seit dem Beginn der heißen Phase im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf geht der demokratische Amtsinhaber Barack Obama verstärkt dazu über, die wachsende soziale Ungleichheit in den Vereinigten Staaten zu thematisieren. Mit der Forderung, die Besteuerung wohlhabender Haushalte mit einem jährlichen Einkommen von mehr als 250 000 US-Dollar zu erhöhen, will Obama von dem zunehmenden Unmut über die soziale Spaltung der USA profitieren. Zudem attackieren Obamas Wahlkampfstrategen verstärkt den steinreichen republikanischen Herausforderer Mitt Romney, der in einer effektiven Medienkampagne als stellenloser Kapitalist dargestellt wird und zur Veröffentlichung seiner Steuererklärungen der vergangenen Jahre genötigt werden soll.
Vor wenigen Wochen leistete zudem die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) dem vermehrt „klassenkämpferische“ Töne anschlagendem Präsidenten zusätzliche Schützenhilfe. In ihrem Ende Juni veröffentlichten Länderbericht mahnte die OECD die US-Regierung, die Kluft zwischen Arm und Reich in den Vereinigten Staaten durch eine Verbesserung der Bildungschancen und eine Anhebung der Steuern für Reiche abzubauen. Die USA wiesen eine der höchsten Armutsraten und die größte Einkommensungleichheit innerhalb aller Mitgliedsstaaten der OECD auf, hieß es in dem Länderbericht. Überdies habe zunehmende Ungleichheit negative Auswirkungen auf den Gesundheitssektor und die wirtschaftliche Entwicklung der betreffenden Volkswirtschaften, konstatierte die OECD.
Tatsächlich sind in den USA seit der vom konservativen US-Präsidenten Ronald Reagan in den 80er Jahren losgetretenen „neoliberalen Revolution“ die Abgründe zwilchen Arm und Reich enorm gewachsen, wie langfristige Statistiken offenbaren. Das berühmte oberste Prozent der amerikanischen Einkommenspyramide, dessen exzessiver Reichtum von der Occupy-Bewegung ins öffentliche Bewusstsein gerückt wurde, konnte seinen Anteil am nationalen Einkommen binnen der letzten 30 Jahre mehr als verdoppeln: von rund zehn Prozent in 1980 auf mehr als 21 Prozent in 2010. Diese Tendenz wurde vor allem durch schwindelerregende Einkommenssteigerungen in den Chefetagen des Managements befördert. Die Vergütung amerikanischer Vorstandsvorsitzender (CEO) überstieg in 1980 den Durchschnittsverdienst in ihren Betrieben um den Faktor 42; in 2011 hingegen kassierten diese Spitzenverdiener 380 Mal so viel wie ihre Angestellten.
Noch krasser kommt die schroffe Klassenstruktur der Vereinigten Staaten zum Ausdruck, wenn die ungleiche Verteilung des bereits akkumulierten Reichtums betrachtet wird. Das reichste Prozent der US-Bürger kontrolliert gegenwärtig ein Drittel allen Vermögens. Seit den 80ern haben die unteren 80 Prozent der US-Reichtumspyramide – also die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung – einen schleichenden Vermögensverlust hinnehmen müssen, bei dem ihr nationaler Vermögensanteil von knapp 20 Prozent in 1983 auf rund 12 Prozent absackte. Dieser Trend wurde in der Rezession zwischen 2007 und 2010 noch verstärkt, als nahezu alle Schichten der US-Bevölkerung massive Vermögensverluste zwischen 40 und 23 Prozent hinnehmen mussten – mit Ausnahme des reichsten Hundertstels, dass selbst in der Rezession noch sein Vermögen um gut zwei Prozent vermehren konnte.
Die Spaltung der US-Gesellschaft schreitet derweil auch während des hitziger werdenden Wahlkampfs immer weiter voran. Das Nachrichtenportal Business Insider berichtete ende Juni, dass die Unternehmensrenditen (Corporate profit margins) in den Vereinigten Staaten einen neuen Allzeitrekord erreicht haben, während der Anteil der Löhne am Bruttoinlandsprodukt auf ein neues historisches Tief von 44 Prozent gefallen sei. Zugleich verweis das Portal auf die grundlegende Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, die diese krasse Spaltung in Arm und Reich befördert: Nach dem Platzen der Immobilienblase in den USA ging der Anteil der Lohnarbeiter an der Gesamtbevölkerung im Verlauf der großen Rezession rapide von 63 Prozent auf 58 Prozent zurück, wobei hier trotz des leichten Aufschwungs keine Erholung in Sicht ist. Das gegenwärtige System bringe „ein paar Millionen Lehnsherren und mehr als 300 Millionen Leibeigene“ hervor, kommentierte der Business Insider.