Wieder fragte der Bodhisattva Prasannatindra: „Oh Lehrer, Bhagavan, möge der allgegenwärtige Herr, der unveränderliche Herrscher mich erhören und auf mich blicken. Egal wie viel jemand auf diese Weise meditiert, indem er den Geist und das Bewusstsein als Pfad nimmt, wenn das nicht im resultierenden Zustand der Befreiung oder Buddhaschaft mündet, dann zeigt uns doch bitte eine Methode, damit wir selbst die ursprünglich reine Große Vollkommenheit, das herrschaftliche Gewahrsein frei von Extremen, identifizieren können, ohne einen langen und schwierigen Pfad durchlaufen zu müssen, der verschiedene Freuden und Sorgen liefert, aber keine Verwirklichung der Frucht. Enthüllt uns die Stufen des Pfades frei von Härten und gebt uns tiefgründige, praktische Anweisungen, damit wir keine Fehler machen.“
Er erwiderte: „Oh Kind aus guter Familie, der große universelle Grund aller spirituellen Fahrzeuge ist tiefgründige Leerheit. Ich werde die Art und Weise erklären, wie man die Wirklichkeit der tiefgründigen Leerheit bestimmt, also höre gut zu! Die Grundlage der Täuschung für alle fühlenden Wesen der drei Bereiche ist allein die Unwissenheit. Prüfe die Grundlage und Wurzel ihres Entstehens, ihres Aufenthaltsortes und ihres Vergehens. Um die Basis und Wurzel des anfänglichen Entstehens des Ich zu untersuchen: es gibt einen Bewusstseinsstrom, der nach dem fundamentalen, durchdringenden, umgebenden Raum als das Selbst greift. Alle Erscheinungen und Geisteszustände sind nicht existent und nicht etabliert, außer als bloße Erscheinungen, da ihre Quelle des Entstehens leer ist.
Den Aufenthaltsort des Ich suchen
Um den Aufenthaltsort zu untersuchen, wo es sich inzwischen aufhält: der Kopf wird Kopf genannt und ihm wird nicht der Name Ich gegeben; Haar ist Haar und nicht Ich; die Augen sind Augen und nicht Ich; die Ohren sind Ohren und nicht Ich; die Nase ist die Nase und nicht Ich; die Zunge ist die Zunge und nicht Ich; die Oberarme sind die Oberarme und nicht Ich; die Unterarme sind Unterarme und nicht Ich; die Handflächen, die Handrücken und die Finger sind nicht Ich; die Wirbelsäule ist nicht Ich; die Rippen sind nicht Ich; die Lungen und das Herz sind nicht Ich; die Leber und ihr Belag sind nicht Ich; der Dünndarm, die Milz und die Nieren sind nicht Ich. Die Schenkel, Hüften, Waden, Fußgelenke und alle Finger und Zehenglieder haben ihre eigenen Namen und sie sind nicht Ich. Die Haut, das Fett, das Fleisch, das Blut, die Lymphe, die Sehnen und Bänder und die Haare des Körpers haben alle ihre eigenen Namen und werden nicht als das Ich bezeichnet.
Wenn das Ich sich im Unterkörper befinden würden, dann gäbe es keinen Schmerz, wenn der Kopf und die oberen Glieder abgetrennt werden würden, also ist es dort nicht vorhanden. Wenn es sich im Oberkörper befinden würde, dann gäbe es keinen Schmerz, wenn den unteren Körperteilen wie den Beinen Leid geschehen würde. Wenn es sich innen befinden würde, dann gäbe es keinen Grund, dass man Schmerz empfindet, wenn die äußeren Körperhaare und die Haut abgeschabt werden würden. Überlege, ob es sich im Körper befindet. Wenn all deine Kleider, deine Juwelen, deine Nahrung, dein Reichtum und Besitz fortgenommen werden und von jemand anderen verwendet werden würden, entstehen Elend und unerträgliches Verlangen und Feindschaft, daher befindet es sich nicht dort. Überlege, ob es sich in äußeren Objekten befindet. Die gesamte Welt und ihre Bewohner würden als zu einem gehörig angesehen werden, aber tatsächlich haben alle Dinge ihre eigenen Namen und sind daher nicht Ich. Auch wenn alle Erscheinungen der Welt und ihre Bewohner getrennt von einem Ich einzeln zu existieren scheinen, unter allen Traumphänomenen, Phänomenen dieses Lebens und Phänomene des nächsten Lebens scheinen das Selbst und alle Erscheinungen wie der Körper und sein Schatten zu sein, so wie Flüssigkeit und Feuchtigkeit, und wie Feuer und Hitze. Somit dominiert das Ich die ganze Welt und ihre Bewohner, aber das Ich kann nirgendwo lokalisiert werden.
Den Bestimmungsort des Ich feststellen
Schließlich untersuche und analysiere seinen Bestimmungsort: die ganze phänomenale Welt ist die Grundlage und die essentielle Natur der großen Truggestalt des Ich, also ist ihr Bestimmungsort natürlicherweise leer. Alle drei Bereiche erscheinen aus dem wundersamen Erscheinen des Greifens nach einem Ich, also muss es nicht irgendwo hingehen. Das Wesen, das der Akteur ist, entsteht nirgends und es hält sich nirgends auf, somit folgt, dass es verschwindet.“
Beständigkeit der Erscheinungen
Wieder fragte Prasannatindra: „Wenn es also sicher ist, dass sein Ursprung, sein Aufenthaltsort und sein Bestimmungsort nicht existieren und nicht errichtet sind, was könnt Ihr über die Beständigkeit von einer Erscheinung zur nächsten berichten? Möge der Lehrer das erklären!“
Er erwiderte: „Oh Kind aus guter Familie, nachdem das Bewusstsein, das nach dem Ich greift, sich manifestiert hat, erscheinen das Ich und ‚Geist‘ aus ihrem eigenen Raum und sie verschwinden wieder in ihren eigenen Raum. Sie treten abwechselnd hervor und ziehen sich wieder in die Weite des wertfreien Grundes der Leerheit zurück. Somit erscheinen Traumphänomene, Phänomene des Wachzustandes und all die Phänomene der drei Bereiche nichtexistient als bloße Erscheinungen. Daher wisse, dass der Aufenthaltsort der Bewegung, der Bestimmungsort von dem, der sich bewegt und der Akteur sind begründet sind.“
Ursächliche Unwissenheit
Wieder fragte der Bodhisattva Prasannatindra: „Oh Lehrer, Bhagavan, wenn sich das Greifen nach einem Ich in die absolute Natur auflöst, ist dann sein Kontinuum durchtrennt? Möge der Lehrer das erklären!“
Er erwiderte: „Oh Kind aus gutem Hause, auch wenn die Erscheinungen und Geisteszustände des Greifens nach einem Ich sich in die absolute Natur hinein auflösen, agiert der wertfreie neutrale Grund, dessen ausgezeichnete Qualitäten nicht manifest sind, als die Ursache für des Greifen nach einem Selbst. Somit wird einfach das unaufhörliche Kontinuum der ursächlichen Unwissenheit des Greifens nach einem Selbst das Greifen nach der Identität einer Person genannt.“
Aus dem Vajra-Herz-Tantra von Dudjom Lingpa. Übersetzt von Ngak’chang Rangdrol Dorje (Enrico Kosmus, 2014)