Lebensabschnitte

Von Waelsch @mentalnet

Sehr geehrter Herr Landrat, liebe Kollegen, liebe Mitarbeiter, sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Gemeinde,

manch einer könnte bei „liebe Gemeinde“ auf den Gedanken kommen, ich spräche hier auch als Pfarrer.
Nein, ich bin Psychiater und Psychotherapeut und bezüglich der Versorgungsfragen und der damit verbundenen Ökonomiesystematik ein Kommunikator und Organisator in weiten Belangen der Gemeindepsychiatrie.

Sie alle leben im Einzugsbereich einer psychiatrischen Klinik mit Pflichtversorgung. Ihr Gebiet wird außerhalb der Klinik von einem Gemeindepsychiatrischen Verbund versorgt, in dem sich all die verschiedenen Dienste und Hilfsangebote in Kooperationen zusammen finden, die von den Bewohnern benötigt werden.
Sie alle haben Nachbarn, Bekannte, Freunde, Angehörige und Mitbürger, die zu einem bestimmten Zeitpunkt diese psychiatrischen Behandlungs- und Hilfsangebote brauchen, brauchen werden, oder bereits auf solche integrierte Angebote angewiesen waren.
Für die gemeindenahe psychiatrische Versorgung müssen wir uns die Frage stellen, wie wir es erreichen können, unsere Mitbürger auch außerhalb von Grillpartys und Joggingstrecken als autonome Mitmenschen wahrzunehmen, als Menschen, die das gleiche Menschsein teilen wie sie und ich.

Jeder von uns hat das Potential psychisch krank zu werden und Anrecht auf eine moderne, fachgerechte, menschliche und wohnortnahe Psychiatrie.

An dieser Stelle möchte ich Sie, sehr geehrter Herr Landrat darum bitten, dem Kreistag meinen Dank für das in mich gesetzte Vertrauen zu überbringen – ich habe für die Bevölkerung des Landkreises, für die Sie in besonderer Weise Verantwortung tragen, gern gearbeitet.

Die psychiatrische Reformbewegung der 70-er Jahre ist nun trotz aller Erfolge auf der Geldmangel-Rutschbahn ins Stocken geraten.

Faule Kompromisse verhinderten bereits in den 80-er Jahren, dass wohnortferne Landeskrankenhäuser aufgelöst und überall in definierten Versorgungsgebieten psychiatrische Abteilungen an den Allgemeinkrankenhäusern aufgebaut wurden. Und das obwohl z. B. in BW das ganze Land auf einer Entwurfskarte des Sozialministeriums bereits planerisch mit psychiatrischen Abteilungen versorgt wurde.

Realisiert wurde diese dringend notwendige Reform nur dort, wo sich Kommunen oder ein Landkreis wie Esslingen dafür eingesetzt haben, eine psychiatrische Vollversorgung – hier des Landkreises – anzustreben.

Im Landkreis Esslingen ist sie beinahe gelungen. Es fehlen für die 530.000 Einwohner nur noch ca. 30 Betten und zwei Tageskliniken. Die Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie in Plochingen war bei der Eröffnung 2002 die 170. in der Bundesrepublik. Die meisten Landkreise haben allerdings nach wie vor keine solchen Abteilungen in ihren Allgemeinkrankenhäusern.

Dabei sind Kontinuität, Zuhören, Verlässlichkeit, Partnerschaft und Handeln wichtige Faktoren für eine gesunde Entwicklung eines Gemeinwesens.

Gute, effektive Teamarbeit kann nur mit gemeinsamen Zielen gelingen. Auch ein gedeihliches Gemeinwesen kann nur mit gemeinsamen Zielen gelingen.

Die heute so üblich gewordene Tafel für hungernde Teile unserer Bevölkerung ist ein Anzeichen dafür, welche Feuerwehrmaßnahmen erforderlich sind, wenn Teamarbeit horizontal und vertikal schlecht gelebt wird.
Das Gemeinwesen verhungert.

Die Desintegration der heutigen Gesellschaft führt zunächst zu einem emotionalen Verhungern, das ein echtes Verhungern zur Folge hat, weil die emotional Verhungerten den Trend zum körperlichen Verhungern um sich herum nicht mehr wahrnehmen.
Dass wir uns überhaupt mit den Fragen der psychiatrischen Versorgung so umfassend und kompetent beschäftigen dürfen, verdanken wir einigen Wenigen, die sich um 1970 für dringend notwendige Veränderungen in der psychiatrischen Versorgung einsetzten.
Nach der planmäßigen Ermordung psychisch kranker Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus begann eine Zeit des kollektiven Wegsehens und Verdrängens. Unter den Vorzeichen des Wirtschaftswunders, wurden die psychisch Kranken in den Landeskrankenhäusern weggesperrt. Erst spät begann man in der Bundesrepublik Deutschland, sich mit der Situation von psychisch kranker Menschen auseinanderzusetzen.

1970 beschäftigte sich der Deutsche Ärztetag erstmals in seiner Geschichte mit der psychiatrischen Versorgung.
Der Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland – so die offizielle Bezeichnung der Psychiatrie-Enquete – wurde im Auftrag des Bundestages im September 1975 von einer Sachverständigenkommission aus rund 200 Mitarbeitern aus allen Bereichen der Psychiatrie erstellt. Die Geschäftsführung der Psychiatrie-Enquête wurde im August 1971 der Aktion psychisch Kranke e. V. übertragen.

Der Zwischenbericht der Kommission vom Oktober 1973 offenbarte schwerwiegende Mängel in der Versorgung psychisch Kranker. Die Kommission stellte fest, „daß eine sehr große Anzahl psychisch Kranker und Behinderter in den stationären Einrichtungen unter elenden, zum Teil als menschenunwürdig zu bezeichnenden Umständen leben müssen.“ Die wichtigste Forderung der Sachverständigenkommission war die nach „Sofortmaßnahmen zur Befriedigung humaner Grundbedürfnisse“.
Bitte: wir sprechen hier über das Jahr 1973.

Darüber hinaus stellte die Sachverständigenkommission fest: „Die psychiatrische Krankenversorgung ist grundsätzlich ein Teil der allgemeinen Medizin. Demgemäß muß das System der psychiatrischen Versorgung in das bestehende System der allgemeinen Gesundheitsvorsorge und -fürsorge integriert werden. Dem seelisch Kranken muß prinzipiell mit dem gleichen Wege wie dem körperlich Kranken optimale Hilfe unter Anwendung aller Möglichkeiten ärztlichen, psychologischen und sozialen Wissens gewährleistet werden.“

Genau das ist mit der Gleichstellung von psychisch und körperlich Kranken an einem Allgemeinkrankenhaus gemeint.

Es macht mir große Sorgen zuschauen zu müssen, dass aus einer vermeintlich finanziellen Not gerade dort gespart wird, wo wir aus der eben beschriebenen Verelendung durch erhebliche Verbesserungen in der Versorgung und im Umgang mit psychisch kranken Menschen mit großem Engagement der Beschäftigten und manchen Verwaltungen rausgekommen waren. Da wo Beschäftigte der Psychiatrie und der Verwaltung an einem Strang ziehen, da klappt es.

Ich begann 1977 nach der Approbation als Arzt in einem Landeskrankenhaus mit 3500 Betten. Bis heute arbeite ich etwa so lange in der Krankenhauspsychiatrie und im sozial-psychiatrischen Bereich, wie die Psychiatrie-Enquête alt geworden ist.
In diesem Großkrankenhaus waren die Zustände so, wie sie in der Psychiatrie-Enquete beschrieben wurden. Katastrophal.
Dort lernte ich genau hinzuhören, was Patienten sagen und wie Psychiatrie nicht stattfinden darf.
Die Folgen der heutigen Desintegration in der Gesellschaft werden auch an den psychisch Kranken und deren Versorgung nicht folgenlos vorbei gehen.

Genauso wie Kinder, Alte, Behinderte und Schwache sind psychisch kranke Menschen in der Gefahr, dass ihre Versorgung und Unterstützung so verbilligt und demontiert wird, dass es ohne Gegensteuerung wieder zu einer Verelendung kommen wird, wie sie nach 1970 festgestellt worden war.

Anstatt zu sparen muss die kommunale Versorgungspsychiatrie noch viel weiter umgesetzt und verbessert werden. Die katastrophalen Zustände in der Psychiatrie der 70-er Jahre haben wir durch viel Engagement beseitigt. Wir haben die Haltung zu psychisch kranken Menschen verändert und sprechen heute nicht von Wegschließen sondern vom Behandlungsvertrag. Über 95% der Patienten sind Partner in der Therapie. Wir haben die Schlangengruben der geschlossenen Stationen beseitigt und versorgen unsere Patienten auf vorwiegend offenen Stationen. Damit sich Unruhe und Aggression nicht auf einer Station konzentriert, beseitigten wir die Aufnahmestationen und verteilen die Patienten nach der Belastung der jeweiligen Stationen. Damit erreichen wir nicht nur ruhigeres Arbeits- und Lebensklima auf den Stationen, sondern die gleiche Verteilung von Problemen, wie sie auch in der Bevölkerung außerhalb des Krankenhauses zu finden ist.

Wir haben die Klapse ihres Schrecken beraubt und führten die psychiatrische Behandlung zu mehr Normalität. Nebenbei erreichten wir mit der Durchmischung der Diagnosen und Krankheitsgrade über alle Stationen hinweg, dass Engpässe bei Aufnahmen vermieden werden. Alle Stationen sind gleich ausgelastet.

Mit Deeskalationsstrategien vermindern wir Gewalt und reduzieren die Anzahl von Fixierungen auf das Aller-notwendigste. Die Stationen sind zu 65% der Jahreszeit offen.

Wir lernten, dass in den psychiatrischen Kliniken Raum, Licht, Beziehung und Verlässlichkeit unabdingbar sind.
Wenn diese Bedingungen bei baulichen Maßnahmen berücksichtigt werden wie auch, dass jeder Mensch um sich einen 80 cm weiten persönlichen Sicherheitsabstand zum Nächsten oder zu Gegenständen braucht, dann erstellen wir urbane Kommunikationsräume. Bauliche Maßnahmen behindern oder fördern Heilerfolge in der Psychiatrie.

In der Personalentwicklung erreichten wir 1990 durch die Einführung der Personalbemessungs Verordnung in der Psychiatrie (Psych-PV) einen entscheidenden Durchbruch. Wir schafften mit der Psych-PV den aus dem Dritten Reich fortbestehenden Halbierungserlass und die darauf abgestellten Personalanhaltszahlen von 1969 ab. Diese Anhaltszahlen haben sich vor allem daran orientiert, wie viel Personal gebraucht wird, um Patienten sicher wegzuschließen. Die Psych_PV dagegen orientiert sich an der Anforderungen der Behandlung und Betreuung und fördert 18-Betten-Stationen. Also eine erhebliche Qualitätsverbesserung.

Leider wird diese Verbesserung durch die Einführung von Behandlungspauschalen auch in der Psychiatrie wieder zunichte gemacht. Das ist eine bittere Qualitätsverschlechterung – diese Erfahrung machen wir in dem DRG-Bereich in der Somatik schon seit Jahren.

Der konsequenten und nachhaltigen Umsetzung von qualitativen Entwicklungen stehen, wie der Modernisierung der ganzen Medizin überhaupt, Begehrlichkeiten von allen möglichen Seiten im Wege.

Die alles beherrschende Begehrlichkeit ist das Geld. Viele merkten, dass mit dem medizinischen Betrieb Geld zu verdienen ist.
Zur Befriedigung dieser Begehrlichkeit sind die Reformen des Gesundheitswesens überhaupt erst angefangen worden. Eine Einsparung bei den Gesundheitsausgaben erlebten wir freilich nicht. Trotz des massiven Betten- und Personalabbaus, vor allem beim Pflegepersonal sprechen wir von ca. 30.000 Stellen. Trotz allerlei Optimierungen und Zuzahlungen steigen die Gesundheitsausgaben weiter um 3,5% im Jahr – bis heute ungebremst.

Daran krankt die Modernisierung der Medizin: sie wird nur zu Gunsten der Gewinnler reformiert.
Wir erleben daher neue Missstände. Nicht nur, dass in dem medizinischen Betrieb Bürokratie, zum Teil ein Dokumentationswahn und eine Ausbeutung von menschlichen Ressourcen überhand nehmen.

Die Folgen der Reformen haben auch eine unglaubliche Vermehrung an patientenfernen Stellen produziert.
Stellen, die mit der Patientenversorgung gar nichts zu tun haben, die vielmehr die Umsetzung der Reformen lediglich beaufsichtigen.

Diese Entwicklung ist in der Bundesrepublik seit der Ära Helmut Kohl zu beobachten. Zeitgleich begannen die besagten Reformen unter dem seinerzeitigen Gesundheitsminister Horst Seehofer.
Die Reformen sollten sich an der freien Wirtschaft orientieren. Dann, so die Vorstellung, würde der Gesundheitsbetrieb als Wirtschaftsbetrieb gesund und billiger.
Bei den Banken wird es Boni genannt. In der reformierten Medizin wird versucht, durch Anreize Ertrag und Gewinn zu steigern. Auf Kosten der Patienten und deren Wohlergehen, auch auf Kosten von deren Gesundheit, wird gewinnorientiert gearbeitet.

Ich brauche in diesem Zusammenhang nur an die Skandale der Transplantationsmedizin und an die Masse neuer Kniegelenke in der Bundesrepublik im Vergleich zu anderen EU-Staaten zu erinnern.

Das ist der falsche Weg. Der einzige Anreiz, der für einen Mediziner gelten darf, ist das Wohl und die Gesundheit des Patienten und seiner Familie. Die Bezahlung getaner Arbeit müssen eine Gebührenordnung und Tarife regeln und nicht willkürliche, wirklichkeitsfremde Pauschalen. In der Medizin darf es einen Wettbewerb um Qualität geben, aber keinen Wettlauf um das Geld.

Wichtig für ein gesundes Gemeinwesen und für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum ist – wenn das Geld „arbeitet“.
Zinsen und Zinseszinsen anzuhäufen ist keine Arbeit, sondern eine Übereinkunft der Finanzwirtschaft unter Missbrauch der Mathematik zur Vermehrung von abstrakten Kontobeständen oder der Menge an gedrucktem Papier.
Mit Hilfe der Mathematik wird das Geld aus dem produktiven Kreislauf herausgehalten und über Derivate vermehrt.
Bei Krisen lösen sich die Kontobestände der Derivate in Rauch auf, weil dahinter nur Zahlen und keine Werte stehen.
An der Bankenkrise sehen wir, welche Folgen es hat, wenn wir Finanzjongleuren alles erlauben.
Die Folgen muss das Gemeinwesen aus Steuerkraft, also durch Arbeit bewältigen. Am Ende ist es immer nur die Arbeit, die echte Werte schafft.
Deshalb muss Geld in Arbeit investiert werden.

Genauso wie die freie Wirtschaft zum Verhalten eines ordentlichen Kaufmanns zurück finden muss, müssen wir uns in der Medizin ausschließlich davon leiten lassen, dass unsere Arbeit allein dem Wohlergehen des Patienten zu dienen hat und nur ihm verpflichtet ist.

Ansonsten werden gesellschaftliche Bereiche mehr und mehr der Korruption anheim fallen.

Verrücktsein ist eine schöne Sache. Ich meine nicht den existentiell bedrohlichen Stress einer Psychose oder die gefühlsmäßige Erstickung in einer Depression. Ich meine die Position des Betrachters, die sich immer wieder verändern kann. Der Betrachter ver-rückt sich von einer Stelle zur anderen. Von dortaus, von einem neuen Blickwinkel, kann er die gleiche Situation ganz neu betrachten.

Das ist schön am Ver-rücktsein.
Der psychisch kranke Mensch hat diese Möglichkeit nicht. Er wird durch traumatisierende Erlebnisse zu einer bestimmten Betrachtungsweise und Position gezwungen ähnlich dem Kaninchen, das vor der Schlange erstarrt.

Die Aufgabe des Psychiaters besteht darin, dem Patienten zu helfen, die Position des Betrachters, die man verändern kann, zurück zu gewinnen.

In diesem Sinne betrachte ich die Rente als Stipendium für einen neuen Lebensabschnitt. Um neue Kunstwerke zu schaffen.

Ich bedanke mich bei allen, die mich unterstützt haben, geholfen haben, damit Vorhaben, Behandlungen und das Zusammenleben in der Psychiatrie gelingen konnten. Ich bedanke mich bei meinen Mitarbeitern, ohne deren Unterstützung und Mitdenken kaum so eine gute Psychiatrie zu machen gewesen wäre, wie wir sie gemeinsam erreicht haben.

Und ganz am Ende eine Erkenntnis, die zugleich eine Bitte ist. Sie lautet:
der Patient hat immer Recht. Seien sie nicht besser, sondern wissen sie mehr.

(Dr. med. M. E. Waelsch/Plochingen, 18.2.2014)