Der Brief und das Tagebuch sind seit jeher im Kreise eifriger Denker beliebte Mittel des Ausdrucks, der Lebensbewältigung. Erfahrungen, Ideen, Gedanken und Ahnungen – von der grossen Frage nach dem Sinn des Lebens bis zur Trivialität eines Milcheinkaufs – werden verarbeitet. Unzählige Schriftsteller, Philosophen, Politiker, Verleger, Psychologen usw. usf. haben der Menschheit eine Fülle privater Aufzeichnungen hinterlassen – die oftmals sorgfältig ediert, aufwendig entschlüsselt, aber wenig gelesen werden. Im Rahmen der Beitragsserie “Lebens-Lagen” widmen wir uns Tag für Tag diesen Noten aus den Leben der Briefeschreiber und Tagebucheinträger. Kalendertage der Veröffentlichung und des präsentierten Textbeispiels stimmen dabei jeweils überein. Wir wünschen viel Vergnügen!
Aus München schreibt der deutsche Widerstandskämpfer Hans Scholl (1918 – 1943) am 13. März 1941 an seine Eltern:
“Meine lieben Eltern!
Für Mutters Briefe und Pakete herzlichen Dank. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich mich mit Werner einige Tage im Gebirge verkriechen könnte, bevor er zu den Preussen geht. Ihm jedenfalls empfehle ich es unbedingt, seine Freiheit sich selbst gegenüber durch eine derartige Handlung demonstrativ ins rechte Licht zu stellen, da der Mensch nicht allein von Ideen, als auch von Erinnerungen lebt. (…)
Ich lese gegenwärtig ein Buch von Lily Abegg (vielleicht ist Vater der Name bekannt), “Chinas Erneuerung”. Untertitel: Der Raum als Waffe!! Societäts-Verlag 1940.
Es ist merkwürdig, dass man noch nie so viele braungebrannte Gesichter unter den Kollegen gesehen hat wie gegenwärtig. Da man vollkommen unsicher in die Zukunft tappt, ist die allgemeine Tendenz: Leben, solange es noch möglich ist! geworden.
Ich will ja nicht über unsere Generation klagen, aber es ist doch etwas arm um sie bestellt (…)”
Aus: Hans Scholl und Sophie Scholl. Briefe und Aufzeichnungen. Fischer 1988