Lebens-Lagen #4: 07. März

Der Brief und das Tagebuch sind seit jeher im Kreise eifriger Denker beliebte Mittel des Ausdrucks, der Lebensbewältigung. Erfahrungen, Ideen, Gedanken und Ahnungen – von der grossen Frage nach dem Sinn des Lebens bis zur Trivialität eines Milcheinkaufs – werden verarbeitet. Unzählige Schriftsteller, Philosophen, Politiker, Verleger, Psychologen usw. usf. haben der Menschheit eine Fülle privater Aufzeichnungen hinterlassen – die oftmals sorgfältig ediert, aufwendig entschlüsselt, aber wenig gelesen werden. Im Rahmen der Beitragsserie “Lebens-Lagen” wollen wir uns diesen Noten aus den Leben der Briefeschreiber und Tagebucheinträger widmen. Kalendertage der Veröffentlichung und des präsentierten Textbeispiels stimmen dabei jeweils überein. Wir wünschen viel Vergnügen!

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Franz Kafka fühlt sich weiterhin unwohl. Am 7. März 1922 vertraut er seinem Tagebuch an:

“Gestern der schlimmste Abend, so als sei alles zu Ende.”

Aus: Franz Kafka. Tagebücher 1910-1923. Hg. v. Max Brod. Fischer 1973.

Am 7. März 1947 schreibt Neal Cassady (1926-1968) aus Kansas City an Jack Kerouac:

“Lieber Jack!
Ich sitze in einer Bar auf der Market Str. Ich bin betrunken, also, nicht ganz, aber ich werd’s bald sein. Ich bin aus 2 Gründen hier; ich muss 5 Stunden auf den Bus nach Denver warten & letztlich, aber vor allem, bin ich hier (und trinke) wegen einer Frau & was für eine Frau! Um chronologisch vorzugehen:
Ich sass am Bus, als in Indianapolis, Indiana, weitere Fahrgäste zustiegen – eine perfekt proportionierte, schöne, intellektuelle, leidenschaftliche Personifizierung der Venus von Milo fragte mich, ob der Platz neben mir besetzt sei!!! Ich schluckte (bin besoffen), gurgelte & stammelte NEIN! (Paradoxe Ausdrucksweise, wie kann man schliesslich Nein stammeln!!?) Sie setzte sich – ich schwitzte – sie begann zu sprechen, ich wusste, es würden Banalitäten sein, daher schwieg ich weiter, um sie herauszufordern.
Sie (heisst Patricia) stieg um 8 Uhr abends in den Bus (Dunkel!), ich sprach nicht bis 10 Uhr abends – in den dazwischenliegenden 2 Stunden beschloss ich nicht nur, sie flachzulegen, sondern auch, wie ich ES TREIBEN würde. (…)
Ohne die mindeste Einleitung mit sachlichen Bemerkungen (Wie heisst du? Wohin fährst du? etc.) stürzte ich mich in eine völlig wissentliche, völlig subjektive, persönliche & sozusagen in ihr Inneres durchdringende Sprechweise; um es kürzer zu machen (da ich langsam unfähig werde, zu schreiben), gegen zwei Uhr früh hatte ich sie so weit, dass sie ewige Liebe, völlige Unterwerfung mir gegenüber & unmittelbare Befriedigung schwor. Ich, der ich sogar noch mehr Genuss erhoffte, erlaubte ihr nicht, mir im Bus einen zu blasen, stattdessen spielten wir, wie man so sagt, miteinander.
Da ich wusste, dass ihr überall vollkommenes Wesen völlig mir gehörte (wenn ich zusammenhängender denken kann, werde ich dir ihre ganze Geschichte erzählen & den psychologischen Grund dafür, mich zu lieben), konnte ich mir kein Hindernis für meine Befriedigung vorstellen, na ja, “die am besten angelegten Pläne von Mäusen und Menschen gehen schief”, und meine Nemesis war ihre Schwester, die Hure.(…)”

Aus: Neal Cassady. Autobiographie, Selbstzeugnisse, Briefe an Jack Kerouac. Fischer 1982.



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