Lebens-Lagen #15: 20. März

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Am 20. März 1952 schreibt Thomas Mann (1875 – 1955) aus seinem Exil in Los Angeles, Kalifornien, an seinen langjährigen Briefpartner, den ungarischen Mythenforscher Dr. Karl Kerényi:

“Lieber Dr. Kerenyi,
nun habe ich wieder zu danken – für einen schönen Dankesbrief. Nichts zu danken! Die kleinen Empfehlungen, die englische und die deutsche, sind mir leicht und vergnüglich aus der Feder geflossen. Bedeutend sind sie ja wahrhaftig nicht, sondern hauptsächlich darauf angelegt, das Publikum lecker zu machen. Beim Lesen Ihres Werkes musste ich immer an das alte Mythologiebuch denken, das meiner Mutter schon beim Unterricht gedient hatte, und worin ich als Junge unersättlich las. Es hatte eine Pallas Athene auf dem Einband und ersetzte mir mit seinen Schilderungen die Taten des Herkules und der Kämpfe des Zeus alle Indianergeschichten. Die “diamantscharf schneidende Sichel”, die Zeus gegen Typhon zückte, begeisterte mich besonders. “Das brachte das Ungeheuer zum Weichen!” Es ist 67 Jahre her, dass ich den Satz las und wieder las, und ich glaube, noch in meiner Todesstunde wird er mir wieder einfallen.
“Sei uns der Gastliche gewogen, der von dem Fremdling wehrt die Schmach.” Der Gastliche – kein Mensch wusste in Tertia, wer das war – nur ich! Von den Wohl- und Missgestalten Ihres Buches war mir dank jener Jugendlektüre dem Namen nach nicht eine einzige unbekannt, selbst solche nicht, die in der Klassischen Walpurgisnacht nicht untergebracht sind; und als ich von Tethys wieder las, fiel mir ein, dass nach dem ‘Erwählten’ ein deutscher Studienrat mir geschrieben hatte, jetzt müsste ich Goethes Achilleis als Prosa-Roman zuende dichten. Finden Sie das eine so dumme Idee? Ich garnicht. Aber da sind ja nun freilich die Krull-Memoiren, die zuende zu führen ich mir in den Kopf gesetzt habe, und die auch trotz der Lächerlichkeit ihres Gegenstandes eine Neigung haben, ins “Faustische” auszuarten. Ich muss froh sein, wenn ich das Meer noch austrinken kann. Zu allem kommt man eben nicht. Aber an Ideen würde es mir nicht fehlen, und wenn ich 120 würde. Es ist schade um sie, z.B. um den Achilleus- oder um den Erasmus-Roman. Denn wer kann es sonst? (…)1

Mann und Kerényi standen vom 27. Januar 1934 bis zum Tode Manns in regem Briefkontakt. Von einem längeren, kriegsbedingten Unterbruch (1941-44) abgesehen, schrieben sie sich regelmässig und ausführlich, kommentierten ihre Arbeiten, das Weltgeschehen, die Literatur und die Mythologie. Wie Kerényi im Vorwort zu der von ihm herausgegebenen Sammlung schreibt, sieht er ihr Gespräch als ein “Dokument des Humanismus in Europa”.


1. Aus: Thomas Mann / Karl Kerényi: Gespräch in Briefen. dtv 1967.

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