Der Brief und das Tagebuch sind seit jeher im Kreise eifriger Denker beliebte Mittel des Ausdrucks, der Lebensbewältigung. Erfahrungen, Ideen, Gedanken und Ahnungen – von der grossen Frage nach dem Sinn des Lebens bis zur Trivialität eines Milcheinkaufs – werden verarbeitet. Unzählige Schriftsteller, Philosophen, Politiker, Verleger, Psychologen usw. usf. haben der Menschheit eine Fülle privater Aufzeichnungen hinterlassen – die oftmals sorgfältig ediert, aufwendig entschlüsselt, aber wenig gelesen werden. Im Rahmen der Beitragsserie “Lebens-Lagen” wollen wir uns diesen Noten aus den Leben der Briefeschreiber und Tagebucheinträger widmen. Kalendertage der Veröffentlichung und des präsentierten Textbeispiels stimmen dabei jeweils überein. Wir wünschen viel Vergnügen!
Am 4. März 1895 schrieb der achtzehnjährige Theodor Rümelin in Blaubeuren an seinen Altersgenossen Hermann Hesse:
“Mein lieber Hermann!
Nimm meinen herzlichen Dank für Deine poetische Epistel; sie hat mir mein Herz froh gemacht, als ich anfangen wollte, in eine trübe Stimmung zu kommen. Weisst Du in so eine, wie sie ein bücherbelasteter argumentedrechselnder Seminarist manchmal bekommen kann wenn er am regenwolkenbehangenen Himmel der Wissenschaft keinen blauen Fleck mehr sieht; wärst Du nicht einst selber “Mönch” gewesen, so würdest Du diese Klagen nicht verstehen, die ich Dir immer und immer wieder in allen Tonarten vorheule; so aber fühlst du mit. Nun natürlich, so arg ernst ist’s mir damit nicht; aber schlimmer als zu Deiner Zeit ist’s mit unserer Lage schon geworden. Unsere Professoren und Repetenten hausen mit Memorieraufgaben, Nebenarbeiten, Repetitionen so auf uns nein, dass wir geradezu gezwungen sind, unsre Zeit zu stehlen. (…)”
Aus: Hermann Hesse in Briefen und Lebenszeugnissen 1877-1895. Ausgewählt und herausgegeben von Ninon Hesse. Suhrkamp 1966.
Am 4. März 1913 berichtete der irische Dramatiker George Bernard Shaw seiner Freundin, der Schauspielerin Stella Patrick Campbell:
“(…) Ich fragte Lillah, wie es in Australien sei. Sie sagte, bei einem ersten Besuch sei es grossartig, ausser dass man die ganze Gage für Kleidung ausgeben müsse, da man auf der Strasse von Menschenmengen verfolgt und täglich im Regierungshaus bewirtet würde und dergleichen. Sie meint, Du würdest einen enormen Erfolg haben. Und das ist der ganze Trost, den ich auf meine Frage erhielt. Ich wollte eigentlich die Antwort haben, dass die Idee lächerlich und ein halsbrecherisches Unternehmen sei.
Es ist spät, während ich dies kritzele. Tieferes habe ich nicht zu sagen. Gute Nacht. G.B.S.”
Aus: George Bernard Shaw. Briefwechsel mit seiner Freundin Stella Patrick Campbell. Herausgegeben on Alan Dent. Rowohlt 1960.