13. Juni 2011
6.37 Uhr! Kaffee. Die erste Zigarette ist geraucht. Der Schlaf ist aus den Augen gewischt. Die Erinnerung an die Nacht verblasst.
Ich träumte, nein, mir träumte von einem gigantischen Luftschiff, geführt von einem gewissen Kapitän Carlos Weinmann. Die Mannschaft bestand aus ehemaligen Bastei-Lübbe-Autoren, hartgesottenen Burschen, die sich auf das Schreiben von Science-Fiction-Romanen ebenso verstanden wie auf die Herstellung eines Verschwörungs-Kirchen-Rätsel-Thrillers. Gute Männer, die sich nun unter der Flagge Weinmanns versammelt hatten, um Verlagshäuser zu überfallen.
„Geht nach Frankfurt!“, schrie Weinmann.
„Was sollen wir dort?“, fragte ich.
„Das Suhrkamp-Haus! Wir werden es in Grund und Boden schreiben!“, schrie der Kapitän.
„Aber die sind doch umgezogen. Nach Berlin.“
Entsetzt sah mich Weinmann an. Er trank einen Schluck Rum, wischte sich über den Mund.
„Warum sollten die umgezogen sein?“, fuhr er mich unwirsch an.
„Aus vielen Gründen!“
Weinmann schüttelte den Kopf. Er zeigte mit seinem Spielzeugsäbel auf mich.
„Den hier setzen wir unterwegs aus“, sagte Weinmann.
„Was? Aber …“
Sie setzten mich tatsächlich auf einer einsamen Verkehrsinsel aus. Dort stand ich dann. Hoffte auf Autos, die nicht kamen. Diese Gegend (ich befand mich in der Nähe von Offenbach) galt als gefährlich, sollte es hier doch Menschenfresser geben.
An mehr kann ich mich nicht entsinnen.
Kapitän Carlos Weinmann
6.48 Uhr! Die Seraphe und das Sternchen schlafen noch. Ich werde schreiben. Vielleicht eine kleine Geschichte über einen hoffnungslosen Tag im Freibad. Oder eine Geschichte über Wespen. Man wird sehen. Ich lasse mich davon überraschen, was die Finger in die Tastatur tippen wollen.
7.58 Uhr! Eine kleine Geschichte geschrieben. Die Erfindung der Liebe. Die Seraphe und das Sternchen sind aufgestanden. Die Seraphe drückt mir einen Kuss auf die Lippen, sie sagt, du sollst dir doch den Kaffee in die Kanne umfüllen, wenn der so lange auf der Wärmeplatte steht, dann wird er bitter. Ich vergaß es, sage ich, zeige zum Bildschirm hin, ich habe geschrieben, da habe ich alles um mich herum vergessen, den Vogel, der noch unter seinem Tuch ruht und nun vorwurfsvoll krächzt, den Kaffee, einfach alles. Die Seraphe ist bereits schon wieder am Räumen. Töpfe klappern. Sie erscheint und befreit den Vogel aus seiner Nacht. „Guten Morgen!“, ruft sie dem Vogel zu, der mit einem Zwitschern ihren Gruß erwidert. Die Rohms sind wach. Alle.
8.17! Die Seraphe schlürft ihren Cappuccino. Sie liest in einem ihrer Thriller. Der Vogel versucht sich an Turnübungen. Ich trinke (noch immer) an meinem Kaffee, den ich eben frisch eingeschenkt habe. Die Kanne aber ist nun leer. Gottseiesgedankt, der Trunk ist für diesen Morgen vernichtet.
8.57 Uhr! Auf dem Balkon stehend, eine Zigarette in der Schnauze, lauschte ich den Glocken, die zum Kirchgang riefen; die Töne schwappten aus der Stadt zu uns herauf und mischten sich mit den Wolken über mir. Der Sound fiel aus dem Himmel auf mich herab. Ich stand da und genoss den Sud aus Klängen.
Jetzt muss ich aber schreiben. Wir sind heute bei Seraphes Schwester Igel eingeladen. Und bis dahin will ich noch etwas geschafft haben.
9.40 Uhr! Nichts geschrieben, dafür aber gefrühstückt.
10.21 Uhr! Na, immerhin. 4 Seiten sind geschrieben.
19.06 Uhr! Wir sind zurück. Ein rauschendes Fest bei Seraphes Schwester Igel, die uns mit einem vierhundert Mann starken Chor empfing. Die sangen „An die Freude“, was uns freute. Die Dienerschaft holte uns am Auto ab. Die Söhne schüttelten uns die Hände. Kommt rein, kommt rein, schrien sie alle.
Über dem Haus kreuzte ein Flugzeug, ein Spruchband durch die Lüfte zerrend, auf dem zu lesen war: WELCOME IDIOTS!
Igel hat eben ihren so ganz eigenen Humor.
Ihr Mann Fernando von Hof und Mann stand am Grill. Die Kinder tollten ausgelassen durch die Ländereien, die von Igel „Garten“ genannt werden. Die Feldarbeiter unterbrachen kurz ihre Arbeit. Strichen den Kindern durch die Haare.
Es war ein ausgelassener Nachmittag bei feinsten Speisen aus dem Orient.
Die Igel-Söhne vergnügten sich beim Polo, während wir über Heidegger und seinen Einfluss auf die Entwicklung in der Zuckerindustrie debattierten.
Die Stunden vergingen. Wir brachen auf. Wir sind gerne bei Igel, die uns zum Abschluss einen Geldkoffer überreichte. „Gebt es aber nett zu schnell aus, gell?“, sagte sie.
Wir versprachen es. Bis bald liebe Igel, lieber Ferdinand, liebe Söhne Rubin und Lukrativius, liebe Tochter Prinzessin Louisiana.
Die adlige Millionärsgattin Igel von Hof und Mann will mich unbedingt adoptieren
Weitere Randnotizen:
Ehec-Epidemie fordert schon 36 Todesopfer.
Facebook-Nutzung in den USA geht zurück.
Bauer sucht Frau.
Guido Rohm leidet unter Haarausfall.
19.33 Uhr! Noch bin ich nicht tot. Noch schreibe ich.
14. Juni 2011
Alle Heiligen dieses Planeten, auch aller anderen Planeten, was für ein Morgen. Ich muss erst einmal auf die Uhr linsen. Verzeihen Sie mir, den Blick (mit geschlossenen Augen) muss ich mir gönnen. Es könnte 5.29 Uhr sein. Ich sitze im Halbschlaf vor dem Computer, aber wie schon mein Ausbilder an der Schriftstellerschule H.G. Jungmann sagte: „Schreiben geht immer!“ Irgendwie zumindest.
Vielleicht erzähle ich Ihnen später einmal von meinen Jahren an der Schriftstellerschule, von den Strafen (wir mussten uns in die Ecke stellen und Jandl-Gedichte rückwärts zitieren), den Lehrern (unter anderem lehrte mich der große Sergej Sevenski, der uns Unterrichtstunde für Unterrichtsstunde aus seinem Roman „Herrenjahre eines Lehrlings“ vorlas) und den Arbeiten (wir mussten jedes Halbjahr einen Roman abliefern).
Sergej Sevenski
Aber jetzt und heute, an diesem unseligen Morgen, schaffe ich es einfach nicht, fiel mir doch eben beim Gähnen bereits schon zum zweiten Mal das Gebiss auf die Tastatur.
Um es klar und deutlich zu schreiben: Ich fühle mich derangiert. 5.39! Immerhin. Ein paar Minuten meines inszenierten Lebens konnte ich mit diesen Sätzen wenigstens erlegen.
Regen trommelt auf das Dachfenster, der Takt erinnert mich an einen Hit aus den 70er Jahren, vielleicht irre ich mich aber auch, nein, könnte …, doch nicht.
6.06 Uhr! Das Leben rennt dahin. Noch nichts Brauchbares produziert. Rauchte soeben eine meiner viel gescholtenen Zigaretten, die mir die Seraphe Tag für Tag auszureden versucht, ist sie doch um meine Gesundheit besorgt.
Heute hat Leopold Wartmann Geburtstag. Er feiert sein Ankommen im 52. Lebensjahr. Wartmann schrieb den von der Kritik sträflich vernachlässigten Roman „Aufzeichnungen eines verunglückten Rennfahrers“.
„Sie steht an meinem Bett, sieht zu mir hinab, beugt sich schließlich zu mir hinunter, Worte flüsternd, die ich nicht verstehen kann. Ich versuche mich an einem Lächeln, dem sie keine Freude, wohl aber Schrecken ablesen kann, denn sie zuckt zurück und reißt den Mund auf. Sie könnte schreien, ich weiß es nicht, denn ich höre nichts; ich sehe einzig ihren weit geöffneten Mund, der die Luft des Krankenzimmers einsaugt, Partikel für Partikel, bis ich Angst um mich bekomme, bis ich sagen will, hör auf, ich kann nicht mehr atmen, du nimmst mir die Luft zum Atmen. Aber es kommt nichts aus meinem Mund, kein Wort, nichts außer dem Nichts. Oder ich kann es einfach nicht hören. Ich weiß es nicht. Die Welt hat sich verändert.“
Aus „Aufzeichnungen eines verunglückten Rennfahrers“. Ein Roman von Leopold Wartmann.
6.17 Uhr! Die Seraphe schläft noch. Sie durchpflügt ihre Traumäcker.
Die Seraphe, meine große Liebe
12.15 Uhr! Eine Buchlawine löste sich. Zum Glück befanden sich weder die Seraphe noch Touristen in der Nähe. Die Aufräumarbeiten laufen, die Helfer zerren Romane von Edmond Hamilton und Thomas Mann zur Seite. Rund um die Unglücksstelle laufen Absperrbänder. Ich blicke vom Schreiben auf, sehe hin. Das wird schon werden, denke ich.
16.36 Uhr! Ein Kaffee. Zigarette. Kleiner Mailverkehr mit Markus Michalek.
Die Seraphe sitzt mit dem Sternchen und meiner Mutter in der Küche, sie trinken Kaffee, essen Kuchen, während direkt vor der Küchentür Lastwagen mit Büchern vorüber rollen. Noch laufen die Aufräumarbeiten des Lawinenunglücks.
Weitere Randnotizen:
Proteststurm lässt Chinas Mächtige zittern.
Kleist-Preis für Sybille Lewittscharoff.
Noch bin ich nicht tot. Noch schreibe ich.