Leben und Meinungen des Guido Rohm (6)

Von Guidorohm

9. Juni 2011

5.22 Uhr! Das asthmatische Röcheln der Kaffeemaschine. Gedämpftes Zwitschern. Die Abwesenheit eines tappenden Kindes. Die Abwesenheit patschender Füße. Das Klacken der Tasten, um Buchtstaben auf einem virtuellen Weiß zu hinterlassen. Die Landschaft des Schreibtisches. Ein Gebirge aus Papiertaschentüchern, ein erloschener Vulkan, mit einem See aus Kaffee darin, ein Papierfeld, darauf Worte wachsen, ein schmaler langer Fels, der an eine Uhr erinnert, ein Turm aus Zetteln.

Geburtstag der Dichterin Valerie Zerzinski. Sie wird heute 45 Jahre.

das weltall
hüpft im kreis
wie ein kleines kind
es springt auf
es schüttelt sich
es klaubt sich ein volk
aus den haaren
wirft ein sonnensystem
sinnlos über die straße
trifft eine hauswand
das kind geht weiter
ungerührt
es tritt nach einer dose
verändert die anordnung
der milchstraße
lacht über sein spiel
dem soeben
auf immer
siebzehn
verschiedene lebensformen
zum opfer fielen

(Aus „Planetenvolleyball“ von Valerie Zerzinski)

5.44 Uhr! Die Ruhe vor dem Tagessturm. Nase putzen. Blut darin. Kaffee. Zigarette. Der Drucker schläft. Wovon träumen Drucker? Von ihren Druckaufträgen, von all den ausgedruckten Worten und Bildern, von den Gesten und Erinnerungen, die nicht ihre sind? Drucker träumen nicht, hat einmal jemand gesagt. Welch eine arme Seele, die so etwas glaubt.

Das Universum unseres Vogels ist sein Käfig. Das Tuch darüber ist seine Nacht. Noch schläft der Vogel. Am Tag darf er dem Käfig entfliehen, den er, obwohl es niemand mit einer treibenden Hand verlangt, nach zwei Rundflügen bereits wieder unter den Krallen spüren will. Wir lieben unsere Gefängnisse. Sie geben uns ein Gefühl von Routine und Geborgenheit und Sicherheit.

Ich habe einen Vogel!

Der Sinn des Lebens soll, versteckt unter Automobilzeitschriften, bei einem gewissen Gerhard Reis zu finden sein. Mythos? Legende? Wer ist Gerhard Reis? Wo wohnt er? Und warum befindet sich der Sinn des Lebens ausgerechnet in seiner Wohnung? Fragen über Fragen, die nach Antworten verlangen. Diese Antworten, so las ich unlängst, befänden sich in der Wäschetruhe einer gewissen Mechthild Müller. Aber wer ist Mechthild Müller? Und warum befinden sich die Antworten in der Wäschetruhe? Rätsel über Rätsel.

6.12 Uhr! Die Seraphe mit einem Kuss aus ihrem Schlaf geweckt. Da lag sie, den rechten Arm unter ihrem Kopf, wie eine Zuschauerin ihrer Träume. Die geschlossenen Augen. Zwei Leinwände. Die Nachtvorstellung ist vorüber. Sie kaut noch auf ihren Traumresten, schmeckt sie noch auf der Zunge. Das Kind indes schläft noch. Der Vogel meldet sich. Jetzt werde ich Sonnenaufgang spielen. Die Nacht wird sich heben wie ein Tuch.

16.52 Uhr! Ein neuer Trockner ist eingetroffen. Die Firma Androiden für Jedermann brachte ihn gegen Mittag vorbei. Den alten, der den Kopf traurig vornüber neigte, nahmen sie mit. Wir klopften ihm noch einmal auf die Schulter. Er habe gute Dienste geleistet.
Dem neuen Trockner haben wir ein Plätzchen in der Waschküche zugewiesen. Ein Prachtkerl, der uns hoffentlich lange erhalten bleiben wird.

Und noch einmal Valerie Zerzinski:

auf noch unbenannten
planeten spielen
käfer ohne namen
ein spiel ohne regeln
auf einem stein
den man nicht als fest
oder rund
oder groß
bezeichnen kann
weil die worte
dafür noch fehlen
vielleicht in
eintausend oder
zweitausend jahren
wird es münder geben
die ihn ansehen
und ein hlughra
formen
das wort für stein
in dieser noch
unbekannten und nicht
zu erwartenden sprache
bis dahin
spielen die käfer
ohne namen ihr
unbenanntes spiel
ohne regeln

17.05 Uhr! Die Seraphe und das Sternchen sind in der Waschküche. Sie unterhalten sich mit dem Trockner. Sie beruhigen ihn. Er scheint sich noch nach seiner alten Heimat zu sehnen. Die Lagerhallen seiner Geburt spuken ihm durch den Kopf. Er wird sich an uns gewöhnen. Das tat bisher noch jeder Trockner.

17.40 Uhr! Bücher signiert, die im Freundeskreis verkauft sind. Rauchte vor wenigen Minuten eine Zigarette auf dem Balkon. Sah zum dem Dach des gegenüberliegenden Hauses. Tauben, die miteinander turteln, die sich etwas in ihre Taubenohren flüstern, sich umsehen. Dann steigen sie in die Lüfte. Fliegen eine Runde. Auch über unser Haus. Kehren zurück. Gurren. Turteln. Flüstern. Sie müssen ein Geheimnis haben. Es soll niemand erfahren. Deshalb flüstern sie.

18.04 Uhr! Einen kleinen Text für das Kameraauge bei Getidan geschrieben. Die Stimmung des Tages krabbelte in den Text hinein. Die Tauben. Das Geheimnis. Alles drin.

19.20 Uhr! Zeit für die Kulturzeit? Nö! Die Seraphe liegt auf dem Sofa. Liest. Sie räuspert sich. Der Vogel knabbert an einem Ast, während das Sternchen in ihren Zimmer ist und … Keine Ahnung! Sie liest vielleicht auch, surft, malt ein Bild, schreibt an einer Geschichte, studiert die Kratzer auf dem Schreibtisch, während ich …

… die verrinnende Zeit beobachte. 19.23 Uhr!

10. Juni 2011

5.23 Uhr! Auf dem Balkon. Eine erste Zigarette. Der Himmel. Ein Schnitt durch die Wolken. Blau sickert aus dem Körper.

Träumte von einer fehlenden Tür. Befand mich in einem Haus voller Türen. Tür an Tür. Und doch wusste ich, warum auch immer, eine Tür fehlt. Die wichtige Tür. Die Tür, die mich wirklich weiter bringen würde. An manche Türen klopfte ich. Bekam keine Antwort. Lief weiter. Lehnte meinen Kopf an das Holz. Lauschte. Stille. Aber das alles brachte mir nichts. Weil sie fehlte. Die eine, die wichtige Tür.

Geburtstag des Schriftstellers Martin Hosenbach. Er feiert seinen 52. Geburtstag. Hosenbach schrieb den Roman „Hotel der Spione“. Hier ein kleiner Auszug aus Kapitel 4:

Die Fassade des Hotels erinnerte Martin an ein Gesicht, ein altes Gesicht, wie man es nur in einem Mythos finden würde. Unzählige Augen, die sich als Fenster tarnten. Die Jalousien waren herunter gelassen. Alle. Nahezu alle. Nur das Glas eines Fensters war zu sehen. Es starrte auf die Stadt hinab, bewachte die Herde aus schlafenden Bewohnern.
Und dann fiel es Martin ein. Er stand vor einem Argusauge. Er würde das Gebäude nicht betreten, denn wer wollte schon in den Kopf eines so alten Wesens schreiten. Was würde er dort finden? Albträume aus uralten Zeiten.
Er war hier, um Argus zu töten. Der Betonriese würde fallen müssen, und mit ihm, die sich darin befindlichen zahllosen Spione, die seit so vielen Jahren abwechselnd über die Stadt wachten.

5.38 Uhr! Der Vogel schläft. Die Seraphe. Das Sternchen. Ruhe liegt auf allen Dingen. Und dann … Was wäre, wenn …? Die große und alte Argusaugenfrage der Literatur. Und ich arbeite ein weiteres Mal an einer Antwort.

6.08 Uhr! Zurück von einer weiteren Zigarette. Eine Rauchsäule steigt in den Himmel. Der Rauch stammt von einer Fabrik, die ich nicht kenne, die ich mir in meiner Fantasie ausmale, die ich vielleicht einmal beschreiben werde. Dann gibt es sie. Sie wird in meinem Kopf stehen.

6.20 Uhr! Und jetzt sind sie alle wach. Fast alle. Das Sternchen muss noch geweckt werden. Der Vogel durcheilt seinen Käfig. Er piepst aufgeregt. Ein neuer Tag. Die Welt hat sich nicht verändert. Seine Äste bieten sich ihm an. Er sieht zu den Knoten hinab, bearbeitet sie mit seinem Schnabel. Tagwerk. Der Vogel schafft sich am Käfig ab. So ein Tag will erlegt werden.

16.31 Uhr! Kaffee. Zigarette. Schlechte Laune. Die muss auch mal sein. Nein, muss nicht sein. Ich sehe zum Vogel. Hat der auch mal schlechte Laune. Er vermittelt zumindest nicht den Eindruck. Piepst in den Tag hinein. Befindet sich in einem ewigen Zwiegespräch mit dem Selbst.

Forscher weisen erstmals Ehec-Erreger auf Biohof nach. Birgit Hogefeld kommt frei. Eine Generation, die sich dem Schweigen der Naziverbrecher widersetzte. Die selbst zu Verbrechern wurden. Und zu großen Schweigern.

Torkelnder Mann. Der Star einer geifernden Menge, die sich an einem Fremden satt sehen will. Wer ist der Mann. Nennen wir ihn Gilbert Miller. Arbeitsloser Schauspieler. Von der Frau verlassen worden, eilt er durch die Straßen. In seiner Manteltasche ein Flachmann. Er ist nicht betrunken. Er fühlt sich betrunken. Er weiß, er kann es spielen, weil er alles spielen kann. Also gibt er den Betrunkenen zum Besten. Wird zum Hauptdarsteller der Realität. Belacht und erkannt. Welch ein tragischer Höhepunkt in diesem Leben.

16.45 Uhr! Erinnerungen, die nicht meine sind. Exil. Stellen wir uns den alten Dichter in einem schäbigen kalifornischen Motel vor. Er steht vor seinem Zimmer. Ans Geländer gelehnt. Raucht. Blinzelt in einen tragisch schönen Sonnenuntergang hinein. Er schließt für Sekunden die Augen. Ist zurück in Deutschland. In seinem kleinen Haus in München. Er sitzt vor der Schreibmaschine. Er ahnt noch nicht, was kommen wird. Er schreibt eine Geschichte über die Flucht eines Schriftstellers. Der erfundene Autor landet in Kalifornien. Er lebt in einem Motel. Abends steht er manchmal vor dem Zimmer und raucht eine Zigarette. Er blinzelt in den tragisch schönen Sonnenuntergang hinein. Er schließt für Sekunden die Augen. Ist zurück in Deutschland.

16.54 Uhr! Die Seraphe und das Sternchen sitzen auf dem Sofa. Lesen. Tauchen in anderen Welten.

Genug der Einträge für zwei Tage. Diese gehen jetzt online!