Die Zeit davor und danach beschreibt die Autorin so genau, dass mich abwechselnd kalte Schauer und komische Belustigung überfallen. In klaren Sätzen und knappen Szenen zoomt sie sich leise an ein Ereignis heran, ohne dort lange zu verweilen oder mich mit langatmigen Passagen der Trauer oder Melancholie zu langweilen. Lea Streisand marschiert einfach weiter im Text zur nächsten witzigen Szene. Mit viel Esprit erzeugt sie insgesamt eine unglaublich positive Stimmung.
Egal, ob sie die Eltern beschreibt, die im Herbst 1989 demonstrieren gehen und vor der Gethsemanekirche stehen, während das Wachs der Kerzen über ihre kalten Hände fließt. Oder ob sie von der Großdemonstration auf dem Alexanderplatz erzählt. Und wie leise die Stadt an jenem Novembertag war, als Tausende Bürger in diese eine Richtung strömten. Kaum hat man diese Bilder im Kopf, kommt wieder eine alberne Anekdote oder ein DDR-Witz (ohne damit aber die vorherige Szene zu verharmlosen oder zu banalisieren).
Denn Franziska erlebt mit ihren alternativen Eltern eine einfache und schöne Kindheit. Und zu dieser gehören Entbehrungen jeder Art. Und die Einschusslöcher in den bröckelnden Altbau-Fassaden genauso wie die Pionierlieder in der Schule. Später sind die Häuserwände dann cremefarben, manche Lehrer dürfen wegen Stasiverdacht nicht mehr unterrichten und in der Eisdiele in der Bötzow gibt’s jetzt auch Stracciatella und Nuss. Franziska vermisst dennoch furchtbar viel, manchmal fühlt sie sich wie der kleine Dinosaurier aus dem Film In einem Land vor unserer Zeit. Ihr Land gibt es auch nicht mehr. Und ihre Stadt Berlin ist jetzt zwar viel größer, hat aber ihre zentrale Mitte verloren. Und da ist sie wieder, die leise Melancholie …
Ich bin sicher, dass Hufeland, Ecke Bötzow für jeden Geschmack etwas bietet. Es ist eine Erinnerungsgeschichte, ein Prenzlauer-Berg-Roman, ein Roman über Familie und Erwachsenwerden und es ist auf kluge Weise ein wirklich lustiges sowie sehr unterhaltendes Buch – und davon gibt es leider viel zu wenige.
Lea Streisand. Hufeland, Ecke Bötzow. Ullstein Verlag. Berlin 2019. 221 Seiten 20,- €