Le Tour du chœur de la cathédrale de Chartres

Le Tour du chœur de la cathédrale de Chartres

Wolfgang Krisai: “Christus und die Ehebrecherin” aus dem “Tour du chœur” der Kathedrale von Chartres.

Endlich schaffte ich es heuer im Sommer, die Kathedrale von Chartres zu besichtigen. Über das „Königsportal“, also das Westportal, hatte ich schon vor Jahren einen Fischer-„kunststück“-Band gelesen und war nun sehr auf die Wirklichkeit gespannt. Die mich nicht enttäuscht hat. Die Kathedrale hielt allerdings auch noch eine gewaltige Überraschung bereit, von der ich bislang nichts wusste: Den „Tour du chœur“.

Stein gewordenes Mysterienspiel

Wie bei vielen französischen Kathedralen gibt es auch in Chartres einen Chorumgang um den Chor herum. Doch hier ist der Chor vom Umgang durch einen hohen Verbau getrennt, gewissermaßen durch eine Mauer, durch die ein paar Portale geschlagen sind, in der sich sogar Kapellen befinden und in zwei Meter Höhe eine Abfolge von rund 40 Nischen, in denen Szenen aus dem Leben Mariens und Jesu durch unterlebensgroße Statuen dargestellt sind. Als ich diese Gruppen sah, war ich überwältigt. Ein Stein gewordenes „Mysterienspiel“ des späten Mittelalters. Überaus lebendig und lebensnah dargestellte biblische und legendarische Szenen, die sich fast alle auch inhaltlich sofort erschlossen: von der Verkündigung an Joachim und Anna über die Geburt Marias, dann die Verkündigung an Maria, die Geburt Christi, die Darstellung im Tempel, Beschneidung, Wunder (beginnend mit dem von Kana), schließlich Jesu Einzug in Jerusalem, der Verrat, Jesus vor Pilatus, Kreuzaufrichtung, Beweinung, Auferstehung, der ungläubige Thomas, Christi Himmelfahrt, Pfingsten, Tod, Himmelfahrt und Krönung Mariens und viele mehr. Das Leben Jesu ist also in die Erzählung des Lebens Marias eingebettet.

Buch darüber

Im Souvenirshop der Kathedrale kaufte ich dann ein Buch, das sich mit dem „Tour du chœur“ befasst, die Entstehung beschreibt und alle Szenen abbildet. (Übrigens zum Spottpreis von 7,50 Euro.)

Daraus erfuhr ich, dass sich die Entstehung des Werks über mehr als 200 Jahre hinzog: von vor 1510, wo der Beschluss dafür befasst wurde, bis 1727, wo die letzte Szene aufgestellt wurde. Dennoch ist das Werk sehr einheitlich, weil die nachfolgenden Künstler sich ziemlich treu am Stil der Spätgotik orientierten und auch das gotische Maßwerk der architektonischen Umrahmung der Szenen konsequent beibehalten wurde. Mehrere Bildhauer arbeiteten im Lauf der Zeit daran: Jehan Texier dit Jehan de Beaune, Jehan Soulas, François Marchand, Thomas Boudin, Jean Dedieu (der u. a. 1678/79 „Christus und die Ehebrecherin“ meißelte), Pierre Legros I., Jean-Baptiste Tuby II., Simon Mazière und unbekannte Künstler.

Kein Avantgarde-Werk

Mag sein, dass das Werk nicht so „berühmt“ ist (wäre es weltberühmt, hätte ich wohl davon in Kunstgeschichten oder anderen Büchern schon längst erfahren), weil es kein „Avantgarde-Kunstwerk“ ist, sondern ein bewusst historisierendes Werk, das nicht ins Schema der an künstlerischen Innovationen orientierten Kunstgeschichte passt. Mir ist diese avantgarde-orientierte Kunstgeschichte inzwischen herzlich egal, daher kann ich Werk wie diesen „Tour“ in ihrer Großartigkeit entsprechend genießen.

Françoise Jouanneaux (Text), Robert Melnoury (Fotos): Le Tour du chœur de la cathédrale de Chartres. Orléans: Association Régionale pour l’Étude du Patrimoine de la région Centre, 2000. Reihe: Images du Patrimoine. 64 Seiten, zahlreiche s/w-Abbildungen.

Abschließend noch zwei Fotos, die ich in der Kirche aufgenommen habe:

Le Tour du chœur de la cathédrale de Chartres

Der “Tour du chœur” der Kathedrale von Chartres, Abschnitt von der Nordseite.

Jean Dedieu:

Jean Dedieu: “Christus und die Ehebrecherin” (1678/79).



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