Lasst die Kinder spielen - ein Plädoyer gegen die Ängstlichkeit

Lasst die Kinder spielen - ein Plädoyer gegen die Ängstlichkeitvon Thomas Baader

Pädagogen und Eltern machen sich zu viele Gedanken darüber, was Kinder nicht spielen sollen, und zu wenig darüber, inwieweit Spiele Fähigkeiten fördern. Und wer möchte, dass Börsenspiele aus den Schulen verschwinden, sollte besser auch gleich alle Schach-AGs verbieten. Dass Spiele weitaus häufiger als Gefahr wahgenommen werden statt als Chance, ist absurd.

An manchen Schulen werden spätestens seit der Finanzkrise keine Börsenspiele mehr durchgeführt. Die Argumente, die gegen das Börsenspiel angeführt werden, sind moralischer Natur. Es ist also offensichtlich, dass Teile der Lehrerschaft einen schlechten Einfluss befürchten, dem die Schüler im Zuge einer solchen Wirtschaftssimulation (denn etwas anderes ist es nicht) ausgesetzt sein könnten. Schauen wir uns also an, welche Argumente in der Regel genannt werden, um das Börsenspiel aus den Schulen zu verbannen:
- Das Börsenspiel stellt eine Art "virtuelles Zocken" dar, und das noch nicht einmal mit eigenem Geld. Die Spieler werden in die Rolle von Spekulanten versetzt.
- Der Spieler wird in dieser Rolle dazu angehalten, auf bloße Gewinnmaximierung aus zu sein und keine Verantwortung für die von seinen Entscheidungen betroffenen Menschen zu übernehmen.
- Die durch das Spiel simulierten Vorgänge, die in der Realität erheblichen Einfluss auf das Leben vieler Menschen hätten, werden durch den Abstraktionsgrad verharmlost.

Vieles davon trifft sicherlich auch auf Monopoly zu und es mag auch nichts zur Sache tun, dass man ähnliche Argumente auch auf der Website der NPD Erzgebirge findet (Zitat: "Unsere Jugend sollte wissen, dass nur durch Arbeit wirkliche Werte geschaffen werden und alles was man genießen will, muss durch harte Arbeit vorher geschaffen worden sein und nicht durch Spekulation [...] Wir  Nationaldemokraten finden, Spiele dieser Art sind unangemessen, unmoralisch und rücksichtslos."). Den Beifall von der falschen Seite könnte man sicherlich getrost ignorieren, wenn die eigene Position eine in sich logische, konsequente und plausible ist. Die Frage ist nur: Ist sie das?

Denn wer auf solche Art gegen Börsenspiele an Schulen argumentiert, sollte auch so konsequent sein, ein Verbot aller schulischen Schach-AGs zu fordern. Denn auch hier ließen sich entsprechende Argumente finden:
- Schach simuliert einen militärischen Konflikt und versetzt den Spieler in die Rolle eines Oberbefehlshabers.
- Der Spieler wird in dieser Rolle dazu angehalten, nur auf Sieg aus zu sein und keine Verantwortung für die ihn anvertrauten Soldaten zu übernehmen. Mehr noch: Das Spiel kann nur gewonnen werden, indem man bereitwillig unwichtigere Einheiten opfert, um die wertvolleren Figuren durchzubringen.
- Die brutalen Vorgänge, die das Spiel eigentlich simuliert - das Schlagen eines Bauern durch einen Springer etwa stellt eigentlich dar, wie eine überlegen geführte Reitereinheit eine schlecht bewaffnete Bauernhorde niedermetzelt - werden durch den hohen Abstraktionsgrad verharmlost.

Nachdem wir es nun unternommen haben, schwache Argumente der Börsenspielgegner mit einer ähnlich schwachen, auf das Schachspiel bezogenen Argumentation zu kontern, ist der rechte Zeitpunkt gekommen, einmal kurz innezuhalten und sich Gedanken über eine "Didaktik des Spiels" zu machen. Warum spielen wir Spiele und warum lassen wir Kinder und Jugendliche (oder aus Sicht eines Lehrers: Schüler) Spiele spielen?

Zu spielen bedeutet häufig, eine andere Rolle anzunehmen als die, die man im wahren Leben hat. Das kann nun die Rolle einen Börsenspekulanten oder eines militärischen Kommandanten sein. Bezieht man noch das Theater in diese Überlegung mit ein, wird es offenkundig: Pauschalisierende Rückschlüsse von der spielerischen Tätigkeit eines Menschen auf seinen Charakter sind unzulässig. Es ist unsinnig, einer Schülerin, die mit Begeisterung die Lady MacBeth spielt, zu unterstellen, sie wolle auch im wahren Leben Menschen zu Morden anstiften. Man macht im Gegenteil oft die Beobachtung, dass jene Menschen, die es lieben, auf der Bühne Schurken zu verkörpern, im wahren Leben oft äußerst freundliche Zeitgenossen sind, ebenso wie sich hinter so manchem Ballerspiel-Fan ein überzeugter Pazifist verbirgt. Noch einmal: Wir nehmen im Spiel andere Rollen an als die, die wir im wahren Leben haben. Vor diesem Hintergrund ist es nur logisch, dass man als anständiger Mensch die spielerische Möglichkeit, die Rolle eines nicht ganz so anständigen Menschen anzunehmen, faszinierend findet. Übrigens: Mit diesen Ausführugnen möchte ich keineswegs die Position vertreten, dass Börsenspekulanten oder Militärs grundsätzlich unanständig wären. Vielmehr erlaube ich mir den Gedankengang: Selbst wenn sie es wären, wäre fraglich, inwieweit ein Mensch Schaden nehmen sollte durch das spielerische Schlüpfen in eine andere Rollen.

Spielen erlaubt die Übernahme anderer Perspektiven. Wer darin immer nur die Gefahr sieht, dass man in dieser anderen, als gefährlich wahrgenommenen Perspektive verharrt, hat das Wesens des Spiels vermutlich nicht verstanden. Eben dadurch, dass die Sphäre des Spiels und die Sphäre des Realität voneinander getrennt sind, wird die eine Perspektive bei Beendigung des Spieles in der Regel automatisch aufgegeben und die andere wieder angenommen. Dennoch hat uns der Perspektivenwechsel normalerweise Erkenntnis beschert, aber nicht unsere moralisch-ethischen Überzeugungen verändert.

Dem Leser mag an dieser Stelle aufgefallen sein, dass ich "in der Regel" und "normalerweise" geschrieben habe. Natürlich gibt es auch anders gelagerte Einzelfälle. Es ist aber auch dann nicht das Spiel, das das Problem darstellt, sondern die psychische Verfasstheit des Spielers. Wenn bei einem Menschen die Grenzen zwischen Realität und Spiel verschwimmen, kann es sicherlich zu gefährlichen Situationen kommen, jedoch darf man annehmen, dass ein solcher Mensch auch dann im Alltag große Probleme hätte, wenn man ihm vom Spielen fernhalten würde. Dasss darüber hinaus nicht jedes Spiel für jedes Alter geeignet ist, ist eine Selbstverständlichkeit.

Nach dem Amoklauf von Winnenden wurde erwogen, Paintball-Spiele zu verbieten. Es mag vielleicht vielen Menschen befremdlich erscheinen, warum nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene Freude daran finden, sich mit Farbkugeln zu beschießen. Letztlich aber, falls die Sicherheit der Teilnehmer gewährleistet ist, stellt das Paintball-Spiel nur eine Variante des "Kämpfens" mit Wasserpistolen dar, wobei man auch noch eine Förderung der Teamfähigkeit der Teilnehmer als Vorteil nennen könnte. Viel problematischer als alle Paintball- und Gotchaspiele, als Liverollenspiel und Ballerei am Computer ist die Angewohnheit mancher Eltern, ihre Kinder im Camouflage-Army-Look zu kleiden. Denn sind die beiden Sphären nicht sauber voneinander getrennt, der "kleine Soldat" existiert optisch nicht nur in einem Spiel, sondern auch im Alltag.

Das immer beliebter werdende Live-Rollenspiel wiederum, eine Mischung aus dem konventionellen ("Tisch"-)Rollenspiel, Improvisationstheater und Pfadfinderspiel, legt in der Regel mehr Wert auf eine erzählerische Struktur, als es das Paintball-Spiel tut (wenn man von sogenannten reinen "Schlachten-Cons", zu denen sich manche Live-Rollenspieler treffen, einmal absieht). Grundsätzlich aber ist eine Veranstaltung, bei der man sich mit Schaumstoffschwertern prügelt und Spielzugarmbrüsten beschießt, durchaus vergleichbar mit dem Paintball-Spiel. Dass letzteres mehr Anstoß erregt, liegt sicherlich auch daran, dass wir dazu neigen, mittelalterliche Waffen zu romantisieren, während uns die Farbkugel-Gewehre der Paintballer emotional eher unangenehm berühren. Bei nüchterner Betrachtung lässt sich jedoch schwer vermitteln, warum das eine harmlos, das andere aber schädlich sein sollte. Übrigens: 2010 kam das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zu dem Schluss, "dass die Teilnehmer das Spiel [Paintball] ebenso als Gemeinschaftserlebnis empfinden wie andere Mannschaftsspiele auch und dass soziale Kontakte dadurch eher geknüpft und bestärkt werden als dass moralischer Verfall eintritt".

Müssen wir im Spiel eigentlich immer kämpfen? Keineswegs. Es gibt auch kooperative Spiele, die keine Konfliktsimulation im engeren Sinne darstellen. Aber auch beim Sportfechten, beim Boxen und beim Kampfsport suchen wir nach Möglichkeiten, Kämpfen in eine spielerisch-harmlose Form zu überführen. Ob man daher als Erwachsener sich immer sofort alarmiert fühlen sollte, wenn Kinder einen simulierten (!) Kampf austragen, ist fraglich. In einem Kindergarten, in dem eine Bekannte von mir arbeitet, war jede Form von "Waffenspielen" streng verboten. Schnell kamen einige Jungen auf die Idee, ihre Pausenbrote in Pistolenform zu beißen, um sich mit den Brotpistolen ("Peng! Peng! Peng!") zu duellieren. Stellt das wirklich ein ernsthaftes Problem dar?

Kehren wir jedoch zum Schach und damit zum Brettspiel zurück. Es gibt mittlerweile einen großen Markt für Konfliktsimulationen auf strategischer Ebene. Wenn "Empires in Arms" die Napoleonischen Kriege und "Advanced Third Reich" den Zweiten Weltkrieg simuliert, wird manch einer sicherlich irritiert reagieren, letztlich aber handelt es sich nur um detaillierte, in einen historischen Kontext gesetzte Ausformungen des Schachspiels. Dabei sind die genannten Spiele viel zu kopflastig, um Aggressionen zu wecken oder auch nur abbauen zu können. Was den Spieler am strategischen Spiel reizt, ist die intellektuelle Herausforderung, das Spiel als Denksportaufgabe. Und bei Vorhandensein eines historischen Hitnergrundes dient das Spiel zudem auch der Erweiterung der geschichtlichen und geographischen Kenntnisse.

Eine grundsätzliche Spielefeindlichkeit ist daher nicht gerechtfertigt. Einzelfälle mögen vielleicht problematisch sein. Die Frage aber, ob man an einer Schule ein Börsenspiel durchführen soll und die Frage, ob man in Berlin ein Stadtschloss wieder aufbauen sollte, haben eines gemeinsam: Sie haben mit Moral nichts zu tun. Es mag Pro- und Contra-Argumente anderer Art geben, aber das Moralisieren ist einer problemorientierten Debatte sicherlich abträglich - zumal man hier auch leicht der Eindruck entsteht: Je progressiver der Sprecher, desto konservativer die Ansicht.

Bedeutet das Dargelegte, dass es meiner Auffassung nach überhaupt keine gefährlichen, geschmacklosen und schädlichen Spiele gibt? Mitnichten. Mit guten Gründen wollen wir keine Spiele sehen, die dem Spieler die Aufgabe auferlegen, Geiseln zu erschießen oder Konzentrationslager zu bauen. Es ist auch völlig legitim, dass Menschen, die einen echten Krieg erlebt haben, eine ablehnende Haltung gegen das Spielen mit Waffen haben. Aber ebenso ist auch richtig, dass ein Mensch, der schon öfters dazu gezwungen war, sich in lebensbedrohlichen Situationen verstecken zu müssen, durch das einfache Versteckspiel von Kindern unangenehm berührt werden könnte. Hier sollten Einzelfallabwägungen vorgenommen werden.

Kinder wollen spielen, Erwachsene manchmal auch. Lassen wir sie spielen.

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