Ein Aspekt, der in den Rezensionen von Lars von Triers neuestem Film Melancholia sehr merkwürdig fehlt: Die Versuchsanordnung, in der die moderne Frauenrolle in zwei gängigen Varianten durchdekliniert wird.
Zwei Schwestern, zwei Schicksale: Justine ist, wie die Justine des Marquis de Sade, die tugendhafte Schwester, der eine Realo-Version gegenüber gestellt wird. Warum hätte von Trier sonst einen so ungewöhnlich sprechenden Namen gewählt, Justine, die Gerechte, wenn er nicht eine ähnliche Parabel beabsichtigt hätte?
Justine (Kirsten Dunst), in einer Werbeagentur erfolgreich berufstätig, ist im Begriff, einen Kollegen zu heiraten. Auf der Fahrt zur Hochzeit im Haus ihrer Schwester ist sie es, die gutgelaunt die überdimensionierte Stretchlimousine dirigiert, bis das Brautpaar zu Fuß weitergeht und viel zu spät ankommt. Trotz Verspätung macht Justine als Erstes einen Abstecher in den Stall und stellt ihrem Lieblingspferd ihren Bräutigam vor. Sie liebt ihren Kerl, aber mit dem Heiraten hat sie es offenbar nicht eilig, und die Mutter (wunderbar als Anti-Mutter Charlotte Rampling) warnt sie bei Tisch auch mehrmals davor.
Die grotesk ausufernde Feier überfordert Justine, die immer erschöpfter und gleichzeitig genervter wirkt und wiederholt ausbricht. Der Drehpunkt: Ihr Kollege, der Bräutigam, überreicht ihr in einem zweisamen Moment als künftiger Pater familias das Foto eines Feldes mit Apfelbäumen. Er habe das Grundstück gekauft wegen der Apfelbäume, das seien die Äpfel seiner Kindheit. Hier solle das Paar leben, hier würde Justine ihre Melancholie besser ertragen. Justine bedankt sich nett und lässt das Foto liegen, als sie abrupt geht. Später begegnet sich das Paar in einem Separée nochmal. Sie entledigt sich zerstreut und müde einiger Kleidungsstücke. Er hält das für eine Einladung zum Geschlechtsverkehr und beginnt energisch, ebenfalls seine Kleidung abzulegen. Sie flieht unter einem Vorwand und das ist das Ende der Beziehung.
Später trifft sie auf ihrer Wanderung über den nächtlichen Golfplatz den jungen Mann, den ihr Chef auf sie angesetzt hat: Seine einzige Aufgabe ist es, Justine die Schlagzeile zu entlocken, die der Chef dringend braucht. Sie stößt ihn um, setzt sich rittlings auf ihn und vergewaltigt ihn. Dessen ungeachtet versucht der junge Mann danach, sich bei Justine einzuschmeicheln: Sie hätten doch so guten Sex miteinander gehabt. Die sexuelle Rolle ist eine soziale Rolle.
Claire (Charlotte Gainsbourg) dagegen, die Schwester mit dem heutigen Namen, keine amoralische Juliette, lebt im Einklang mit der patriarchal definierten sozial-sexuellen Rolle. Sie hat einen reichen Mann geheiratet und lebt, anscheinend glücklich, als Mutter eines Kindes mit/von ihrem Mann. Sie bemuttert Justine und ist offenbar die Urheberin des aufwendigen und vielleicht gerade deswegen scheiternden Hochzeitsplans. Unklar bleibt, ob die zudringliche Fürsorglichkeit Claires die Ursache der psychischen Krankheit Justines ist. Die enge Verbindung der Schwestern wird anschaulich in den gemeinsamen Ausritten in dämmernder Landschaft, aufgenommen aus einer starren Vogelperspektive, im Unterschied zur flackernden Handkamera der Begegnungen auf Augenhöhe. Der Ehemann, eine wenig profilierte Figur spielt zunächst den Beschützer, dann begeht er heimlich Selbstmord, als die Katastrophe unabwendbar scheint.
Fluchtpunkt der Konstellation ist das Kind, das seine Tante Stahlbrecher während der Hochzeit mehrmals drängt, ihm die versprochene Höhle zu bauen. Sie baut zum Schluss mit ihm eine Zauberhöhle aus Holzstämmen, in der angesichts des dramatisch heranrasenden Planeten die beiden Schwestern und das Kind in einem Kreis sitzen und sich wie in einem Ritual an den Händen fassen.
Der Planet Melancholia, nach dem der Film benannt ist, Apokalypse in romantischer Bildsprache, das ist wohl der christlichen Prägung von Triers zu verdanken, und da kommen vielleicht auch seine Depressionen her, auf die so ziemlich alle Rezensionen eingegangen sind? Frauenfeindlich findet ihn seine Hauptdarstellerin Kirsten Dunst jedenfalls nicht.
Die Zeit: Der Planet ohne Trost.